Sonja Marko ist bei ver.di zuständig für Migrationspoltik

Ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts reisten deutsche Gewerkschafter im Winter nach Italien, um dort unter italienischen Arbeitern Mitglieder zu werben. Denn die Italiener kamen im Sommer über die Alpen, um in Deutschland beim Eisenbahnbau und in der Landwirtschaft zu arbeiten. So sollte Lohndumping verhindert und internationale Solidarität praktisch gelebt werden. Heute leben wir in der EU mit fast 500 Millionen Menschen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird immer stärker genutzt. Allein in diesem Jahr sind knapp eine halbe Million Menschen nach Deutschland gekommen, viele aus Griechenland, Spanien und Portugal. Aber auch Deutsche nutzen die Arbeitnehmerfreizügigkeit; in den vergangenen Jahren haben mehr als 150.000 eine Stelle im Ausland angetreten.

Wie funktioniert die grenzüberschreitende gewerkschaftliche Solidarität heute? Erste Schritte sind getan, aber wir sind noch nicht gut genug. ver.di hat mit den Schwestergewerkschaften in Österreich und Großbritannien einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, der die wechselseitige Anerkennung der Mitgliedschaft festlegt. ver.di-Mitglieder werden also in beiden Ländern so behandelt, als ob sie Mitglied der Gastgewerkschaft wären. Die Gewerkschaftsinternationale UNI bietet einen internationalen Gewerkschaftsausweis an, der die Unterstützung aller Mitglieder der UNI grenzüberschreitend regelt.

Das Netzwerk der internationalen Solidarität muss noch enger geknüpft und praktischer werden. So hat es auch der letzte ver.di-Bundeskongress beschlossen. Wir wollen die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft europaweit wechselseitig anerkennen, wie es der Europäische Gewerkschaftsbund seit Jahren fordert. Was bedeutet das für die tägliche Praxis? Das Informationsbedürfnis der neuen Arbeitnehmer/innen aus der EU ist groß, zumal immer weniger in Betrieben mit Betriebsrat und Vertrauensleuten arbeiten.

Wir müssen in Kooperation mit Schwestergewerkschaften für bessere Information über Tarifrecht, Sozialrecht und Mitbestimmung sorgen und unter den neuen Kollegen Mitglieder werben. Durch ein Austauschprogramm von hauptamtlichen Gewerkschaftern können die Kenntnisse über andere EU-Staaten verbessert werden. Aber wir brauchen auch die Kompetenz unserer mehrsprachigen ehrenamtlichen Aktiven für mehr europäische Solidarität. Lohndumping und menschenverachtende Ausbeutung gibt es auch noch im 21. Jahrhundert. Die Ziele der Arbeiter und Arbeiterinnen aus dem 19. Jahrhundert gehören immer noch auf die Tagesordnung für eine gemeinsame Perspektive der Gewerkschaften in Europa.