Ausgabe 01/2013
"Keimgefährlich"
Manchmal haben sie das Gefühl, die in der Chefetage hätten noch nie etwas von Arbeitnehmerrechten gehört. Aber die Jugend- und Auszubildendenvertreter/innen am Universitätsklinikum Marburg setzen sich beharrlich durch - spätestens wenn die Hygiene ins Spiel kommt
Unterschiedliche Persönlichkeiten, die sich fast perfekt ergänzen, temperamentvolle Diskussionen, die dennoch zielgerichtet sind und mit klaren Entscheidungen enden: Bei den Mitgliedern der Marburger Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) des Universitätsklinikums Gießen-Marburg herrscht ein prima Betriebsklima. Der zurückhaltende Tobias Fischer, der lustige Florian Reuß, der überlegte Jannik Pinz, die quirlige Sabrina Michels, die stille Valentina Wolf und der freundliche Rifat Erdem sind in ihren Elementen und bester Laune, ihr Moderator ist Björn Borgmann.
Björn (24) ist seit 2006 JAVler und seit 2007 als freigestellter Konzern-JAV-Vorsitzender zuständig für alle Jugendlichen und Auszubildenden der privaten Rhön-Klinikum AG. Er hat bewegte Zeiten hinter sich, Teilnahme an Tarif- und Haustarifverhandlungen, öffentlicher Kampf gegen Personalabbau und schlechte Bezahlung, Streik und immer wieder Aufklärung der Azubis über ihre Rechte. 2005 fusionierten die beiden Universitätskliniken Gießen und Marburg, ein Jahr später wurden sie unter Auflagen für 112 Millionen Euro verkauft und privatisiert. Seither gehören die Krankenhäuser zu 95 Prozent der Rhön-Klinikum AG, das Land Hessen hält fünf Prozent der Anteile und beschäftigt nur noch das wissenschaftliche Personal. Ein "Leuchtturm" christdemokratischer Politik sollte das Projekt werden, ein Desaster zeichnet sich ab.
Die Zeiten sind also noch immer bewegt. Derzeit droht dem Klinikum eine Vertragsstrafe, weil es die dem Land als Vergabekriterium zugesagte Partikeltherapieanlage für Krebspatienten nicht fristgerecht in Betrieb genommen hat. Bei der als Vorzeigeprojekt gedachten Privatisierung wurden bisher nur Millionenverluste erwirtschaftet. Seit Monaten herrscht Aufruhr in der Belegschaft. Der Konzern, und das geht die JAV besonders an, tut sich deshalb finanziell schwer, die 2011 im Tarifvertrag ausgehandelte Übernahmegarantie aller Auszubildenden einzuhalten und vertritt die Position, dass die betriebsbedingt angespannte Situation dazu berechtige.
Ordnung muss sein, innen und außen
Björn ist trotz aller Widrigkeiten ein Vorsitzender mit Humor geblieben. Das Ambiente des Büros der Marburger JAV im ersten Stock des Klinik-Wohnheimes in der Wilhelm-Röpke-Straße 8 ist bemerkenswert aufgeräumt, lindgrüne Wände, ordentliche Aktenregale. Ordnung findet Björn, braucht es eben innen wie außen: "Wir sind viele. Das heißt, dass wir mit unseren Räumen sorgsam umgehen müssen." Insgesamt teilen sich in Marburg neun JAV-Mitglieder und sieben Ersatzmitglieder die Räume.
Warum Gewerkschaft, warum sich überhaupt wählen lassen, warum so viel Engagement? Die Antworten sind zuerst eher pragmatisch: mehr Geld durch Tarifverhandlungen, persönliche Vorteile, bessere Arbeitsbedingungen, die Möglichkeit der unbefristeten Übernahme nach der Ausbildung. Und: "Streik macht auch Spaß!" Dann aber scheint immer mehr durch, was die JAVler eigentlich um- und antreibt.
Nachrücker Rifat, Elektroniker im ersten Ausbildungsjahr, war vorher in einer Eisengießerei beschäftigt. Er wechselte von der IG Metall zu ver.di. Gewerkschaft bedeutet für ihn, "dass man nicht so alleine dasteht, seine Meinung sagen kann, dabei Rückhalt hat und anderen helfen kann. Ich kann nicht einfach alles so runterschlucken. Dann platze ich." Valentina Wolf, Krankenpflegeschülerin, kam vor acht Jahren in die Bundesrepublik: "Ich bin nicht streitsüchtig, aber auch nicht konfliktscheu. Ich komme aus Russland, da musste man sich durchsetzen." Auch ihr ist es wichtig, "dass man was sagen kann und die Leute hinter einem stehen". Sie alle fühlen, dass die JAV ihnen auch in unsicheren Zeiten die Kraft gibt, ihre Interessen zu vertreten.
Dass sie kandidiert haben, war teils Eigeninitiative, teils aber auch Überzeugungsfähigkeit. Eigentlich habe Björn sie motiviert. Er sei, so seine JAV-Kolleg/innen, "sehr überzeugend" gewesen. Der Organisationsgrad bei den Azubis in Marburg ist sehr hoch, geschätzte 70 bis 80 Prozent. Die JAV nimmt sich Zeit für die Mitgliedergewinnung, alle Neuen werden in den Pausen an ihrem Arbeitsplatz oder in der Schule besucht. Die ersten Gespräche können bis zu 90 Minuten dauern. Über die Vorteile und ihre Rechte am Arbeitsplatz hätten viele, sie selbst nicht ausgenommen, vorher wenig oder gar nichts gewusst. Inzwischen haben sie erfahren, dass Aufklärung auch in den Chefetagen wichtig ist: "Manchmal gucken die einen an, als hätten sie noch nie etwas von Arbeitnehmerrechten gehört." Im Großen und Ganzen aber, darauf ist Björn stolz, seien bisher die meisten Konflikte mit beharrlicher Sachlichkeit betriebsintern und einvernehmlich geregelt worden
Wenn eine Kleinigkeit zum Dauerärgernis wird
Björn organisiert heute auch die Fahrt in die betriebsinterne Elisabeth-von-Thüringen-Schule für Pflegeberufe. Die 14 Schüler/innnen im zweiten Ausbildungsjahr dürfen ihre Sorgen vortragen und nehmen kein Blatt vor den Mund: trotz Praxisanleiter/innen zu wenig Begleitung der Auszubildenden auf den Stationen, wegen Überlastung des Personals ein "rauer Umgangston". Azubis werden alleine gelassen oder als "Lückenbüßer" hin und her geschoben. Björn, der jeden Punkt, jedes Komma im Betriebsverfassungs- und Arbeitsrecht, in den Tarifverträgen kennt, bestärkt sie: "Ihr habt das Recht, Nein zu sagen."
Eine scheinbare Kleinigkeit wird zum Dauerärgernis. Es fehlen Umkleidemöglichkeiten und Schränke für die Azubis, der Zugang zu den Personalräumen ist auf ihren Transpondern, den elektronischen Schlüsseln, nicht freigeschaltet. Manche müssen sich, Hygiene hin, Krankenhauskeime her, in den Toilettenräumen umziehen. Das sei nicht nur, so eine Schülerin, "richtig ekelhaft", sondern auch "keimgefährlich". Andererseits sind Spinde blockiert, obwohl deren Besitzer längst nicht mehr in der Klinik arbeiten. Die JAV hat die Probleme, die den Alltag quälend machen können, im Visier. Alle Schränke, die nicht zugeordnet werden können, werden "demnächst von der Haustechnik geknackt" und die Transponder freigeschaltet.
Auch andere Fragen stehen an: Wie werden Überstunden abgebaut oder ausgeglichen, Fehlstunden trotz Arbeitszeitbegrenzung für Auszubildende nachgeholt? Die JAV kümmert sich auch um Wohnheimplätze und die Parkplätze: "Die Geschäftsführung möchte die mit gestaffelten Preisen fest vermieten." JAV und Betriebsrat beharren auf gleiches Recht für alle: "Die Chefarztschilder müssen wieder weg." Dann noch ein kurzer Besuch bei den Azubis vor Ort in der Neurologischen Intensivstation. Auch hier Ärger mit den Umkleideräumen, größere Probleme aber macht die Verteilung der Auszubildenden auf die einzelnen Stationen, manchmal gebe es eine regelrechte "Schülerschwemme", manchmal Engpässe.
Als nächstes steht die wöchentliche JAV-Sitzung auf dem Programm. Für eine Mittagspause bleibt keine Zeit außer einem schnellen Gang zur Bäckerei. Da liegt, wie in vielen Geschäften, eine Unterschriftenliste aus gegen den Personalabbau im Klinikum. Die Marburger Bürgerinnen und Bürger hängen an ihrem Krankenhaus und protestieren schon seit sechs Jahren heftig gegen Privatisierung und Personalknappheit.
Die Tagesordnung der nachfolgenden JAV-Sitzung zurück im Klinik-Wohnheim in der Wilhelm-Röpke-Straße ist kompakt: die "Schülerverschieberei", zu viele Auszubildende und Praktikant/innen, zu wenig Personal, ein Problem, das vor allem zu Jahresbeginn verschärft auftritt, der Kampf um geregelte Arbeitszeiten, Probleme mit dem Einsatz bei den Kooperationspartnern in der ambulanten Pflege, die Vergabe von Wohnheimplätzen, der Arbeitsschutz, die Ablehnung von Fortbildung durch die Personalabteilung, der Lehrbücherverkauf durch das Klinikum. Das Informationsheft jav.aktuell muss aktualisiert, die Delegation der JAV-Mitglieder zu Sitzungen und Seminaren geregelt werden. Als die Liste zu lang wird, bremst Björn nach zwei Stunden. "Es gibt viele Dinge auf dieser Welt", sagt er, "die ich nicht schön finde, aber manchmal stoßen auch wir an unsere Grenzen."
"Ich kann nicht einfach alles so runterschlucken. Dann platze ich."
Rifat Erdem, Elektroniker in der Ausbildung