Die Migrant/innen in ver.di fordern das Wahlrecht für alle Menschen, die dauerhaft hier leben Als "Gastarbeiter" nach Deutschland gekommen

von Murat Çakır

"Wenn Deutschland ein Betrieb wäre, wäre das leidige Thema des Ausländerwahlrechts längst erledigt", sagte der ehemalige Betriebsrat Musa Pehlivan oft. Dann hätten wir es, meinte er. Seit mehr als 40 Jahren hat jede/r Beschäftigte, der mehr als sechs Monate in einem Betrieb in Deutschland arbeitet, das Recht, dort den Betriebsrat zu wählen und selbst in das Gremium gewählt zu werden. Grundlage dafür ist das Betriebsverfassungsgesetz.

Musa Pehlivan war einer der ersten türkischstämmigen "Gastarbeiter" in Deutschland. Er kam Ende 1961 nach Hamburg, wurde Hafenarbeiter und Kneipenfreund des Beatles-Schlagzeugers Ringo Starr. Aber er wurde auch Gewerkschaftsmitglied und gehörte zu den ersten gewählten Mitgliedern der Ausländerbeiräte. Ob auf einer Betriebsversammlung, am Antikriegstag oder am Maifeiertag - jede Rede begann er so: "Ich habe Deutschland, meine zweite Heimat, mitaufgebaut. Dennoch werde ich, wie Millionen andere Nichtdeutsche, wie Zählvieh behandelt. Damit muss endlich Schluss sein. Wir wollen zum Wahlvolk gehören." Sogar bei der Feier zu seiner Verrentung begrüßte er seine Gäste damit. Kurz zuvor hatte er selbst das Wahlrecht durch Einbürgerung erhalten. Zufrieden war er damit jedoch nicht. Er sagte: "Nur wenn wir alle die gleichen Rechte besitzen, werden Rassisten keine Möglichkeiten finden, einheimische und zugewanderte Beschäftigte auseinanderzudividieren." Gleiche Rechte seien die beste Grundlage, soziale Rechte zu verteidigen und für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller gemeinsam zu streiten.

Fünf Millionen Einwanderer dürfen nicht wählen

Viele stimmen Pehlivan heute zu. Doch das Wahlrecht ist in Deutschland nur dem "Staatsvolk" vorbehalten. Rund fünf Millionen Einwanderer, die dauerhaft in Deutschland leben, dürfen nicht hier wählen. Ausnahmen gelten nur bei Kommunal- und Europawahlen für Menschen aus EU-Staaten. Einwanderer aus anderen Ländern können nicht durch ihre Stimmabgabe mitbestimmen, wie sich die Gesellschaft entwickeln soll. Die gesellschaftliche Realität erfordert hier ein Umdenken. Dazu rufen auch die Migrant/innen in ver.di auf, gerade jetzt, im Wahljahr 2013 (Kasten).

Ich will nicht nur zuhören, ich will mitentscheiden

Savas Tetik (51), Sozialberater im Münchener Infozentrum der AWO für Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien

Ich bin vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen, seit elf Jahren habe ich jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft und darf also auch wählen. Vorher habe ich zwar Steuern gezahlt, meine Pflichten in der Gesellschaft erfüllt wie jeder andere auch, aber ich habe mich immer ausgeschlossen gefühlt, nicht als richtiger, 100-prozentiger Bürger. Bei wichtigen Entscheidungen, die die Gesellschaft betreffen, hat mich keiner nach meiner Meinung gefragt. Ohne Wahlrecht darf man auch an einem Volksentscheid nicht teilnehmen, das habe ich selbst erlebt. Es ging um die Schließung unserer Stadtteilbibliothek, in der ich damals mit meiner Tochter täglich war. Wir haben viel Zeit dort verbracht. Das war ein ganz wichtiger Ort, für uns beide - und für viele Migrantenkinder. Gegen die Schließung konnten wir zwar gemeinsam mit anderen auf die Straße gehen und demonstrieren, die Jahresgebühr bezahlen durften wir auch, abstimmen gegen die Schließung konnten wir aber nicht. Meine Tochter hat es nicht verstanden, ich konnte es ihr im Grunde nicht erklären. Dabei war ich doch der Erste, der gefragt werden sollte, schließlich war ich täglich dort.

Die Bibliothek wurde geschlossen, die Stimmen, die im Volksentscheid zusammenkamen, haben nicht ausgereicht, um das zu verhindern. Damals habe ich gemerkt: Ich will nicht nur zuhören, ich will mitentscheiden. Will meine Wünsche und Forderungen deutlich machen, bei Wahlen meinen Kandidaten meine Stimme geben und mitbestimmen, wer Bürgermeister wird. Oder Bürgermeisterin. Das Wahlrecht betrifft mich im Alltag ganz unmittelbar. Ich bin deshalb deutscher Staatsbürger geworden, aber ich denke: Einwanderer, die hier dauerhaft leben, sollten auch ohne diesen Schritt in Deutschland wählen dürfen.


Als gleichberechtigt anerkannt

Emilija Mitrovic (59), Sozialwissenschaftlerin, freie Mitarbeiterin bei ver.di Hamburg

Ohne Wahlrecht hatte ich das Gefühl, von etwas Wichtigem ausgeschlossen zu sein. Obwohl ich Jugoslawin war, konnte ich als Jugendliche zur Landesschülersprecherin gewählt werden. Doch als ich 18 wurde, durfte ich nicht mit meinen Freundinnen zur Wahl gehen. Später wurde ich Mitglied in einer Partei und hätte mich auch dort gern politisch engagiert. Doch mehr als "mitlaufen" durfte ich nicht, weil ich mich nicht auf die Liste zur Hamburger Bürgerschaft wählen lassen konnte. Gewerkschaftlich organisiert bin ich schon seit Ewigkeiten. Gewerkschaft ist für mich ein Ort, an dem ich überparteilich Politik machen und auf gesellschaftliche Entwicklungen Einfluss nehmen kann. Als ich für meine Tochter die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt habe, entschied ich mich auch für mich selbst dafür. Obwohl ich mich immer außerparlamentarisch engagiert habe, war es mir wichtig, wählen zu dürfen. Meiner Meinung nach gehört das Wählen zu einer demokratischen Beteiligung. Das wollte ich auch meiner Tochter vermitteln. Für sie ist es heute selbstverständlich, dass sie beispielsweise per Briefwahl wählt, wenn sie am Wahltag nicht in Hamburg ist. Durch das Wahlrecht bin ich als gleichberechtigt anerkannt worden. Es drückt aus, dass man mir zutraut, dass ich politisch etwas mitgestalten kann, hat aber nicht nur einen symbolischen, sondern auch einen ganz realen Wert. Denn wenn ich Politiker mit Migrationshintergrund als meine Interessenvertreter wähle, können sie direkt Einfluss nehmen. Deshalb ist es mir wichtig, nicht nur für das kommunale, sondern auch für das allgemeine Wahlrecht zu kämpfen. Die wesentlichen politischen Entscheidungen werden doch auf Landes- oder Bundesebene getroffen, wie zum Beispiel in der Bildungspolitik. Wir wollen nicht nur mit dem kommunalen Wahlrecht abgespeist werden. Damit dürfen wir höchstens bei der Einrichtung von Parkstreifen mitbestimmen.


Das Wahlrecht wäre ein überzeugendes Zeichen

Bülent Oruc (52), Postmitarbeiter am Flughafen in Frankfurt am Main

Ich bin in der Türkei geboren und aufgewachsen, lebe aber seit mehr als 33 Jahren in Deutschland. Die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich zwar nicht, möchte jedoch trotzdem hier wählen, in dem Land, in dem ich meinen Lebensmittelpunkt habe. Ich arbeite hier und engagiere mich ehrenamtlich, zum Beispiel in unserem Bezirksmigrationsausschuss bei ver.di und als Vertrauensmann im Betrieb. Da ist es aus meiner Sicht eigentlich selbstverständlich, dass ich hier auch wählen und auf diese Weise auf die Gesellschaft Einfluss nehmen sollte, ohne dass ich meine türkische Identität aufgeben muss. Wie kann man das anders sehen? In vielen europäischen Ländern haben Migrantinnen und Migranten dieses Recht auch längst; Deutschland müsste nicht mal Neuland betreten, sondern nur an die guten Erfahrungen anderer Staaten anknüpfen. Statt dessen versuchen manche Politikerinnen und Politiker aus ihrer Ausländerpolitik, die uns das Wahlrecht vorenthält, Kapital zu schlagen. Ich kann bei vielen Dingen nicht mit entscheiden: wenn es um die Stadtplanung in meiner Umgebung geht, die kommunale Gesundheitspolitik oder die Finanzen in der Stadt, in der ich lebe. Ich bin dadurch faktisch ausgegrenzt. Das Wahlrecht wäre für mich - wie für viele andere Einwanderer - ein überzeugendes Zeichen, dass wir Migranten hier willkommen sind. Es würde sagen: Entscheidet mit, wirkt mit. Das ist für Deutschland wichtig. Auf der Landes- und Bundesebene würde ich gern einer Partei meine Stimme geben, von der ich meine, dass sie sich für die Rechte von Arbeitnehmern einsetzt. Aber meine Stimme ist nicht gefragt. Als gleichberechtigt anerkannt

Protokolle: Michaela Ludwig, Claudia von Zglinicki

Politische Partizipation jetzt - Wahlrecht für alle! Aus dem Aufruf der Migrant/innen in ver.di zum Wahljahr 2013

"Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken."

(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 21, Absatz 1)

2013 ist ein wichtiges Wahljahr in Deutschland. Bei der Bundestagswahl und bei Landtagswahlen in drei Bundesländern wurden und werden wichtige Entscheidungen für alle Bürger/innen getroffen. Die Wahlen entscheiden, wie wir in den nächsten Jahren arbeiten und leben werden. Wird die Rente mit 67 modifiziert? Gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn? Wie integrativ werden sich die Schulen und Hochschulen entwickeln? Welchen Stellenwert werden Kunst und Kultur haben? Das sind nur einige Stichworte zu Themen, die uns alle angehen, die aber nicht alle mit entscheiden können. Rund fünf Millionen Einwanderer werden nicht mit entscheiden können, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Sie leben in Deutschland, aber sie haben ohne deutsche Staatsangehörigkeit kein Wahlrecht. Ausnahmen gibt es nur bei Kommunal- und Europawahlen für die Bürger anderer EU-Staaten.

Das wollen wir ändern! Deshalb fordern wir das allgemeine Wahlrecht auch für die Migrant/innen, die dauerhaft in Deutschland leben und arbeiten. Das kommunale Wahlrecht ist ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Gewerkschaftliche Erfahrungen

Die Frage, wie Migrant/innen sich politisch in der Gesellschaft engagieren und mitgestalten können, stellt sich seit vielen Jahren. Die Gewerkschaften haben darauf Antwort gegeben. Zum einen fordern Einzelgewerkschaften und DGB seit vielen Jahren das kommunale Wahlrecht für alle. Zum anderen praktizieren sie in den Betrieben die Partizipation von allen für alle seit nunmehr über 40 Jahren. Die Grundlage ist das Betriebsverfassungsgesetz. Jede und jeder, der länger als sechs Monate im Betrieb ist, hat das aktive und passive Wahlrecht zum Betriebsrat. Herkunft und Nationalität spielen keine Rolle. Und unsere Erfahrungen sind gut. Viele Migrant/innen beteiligen sich aktiv an den Wahlen oder übernehmen Verantwortung als Betriebsräte. Die demokratische Beteiligung, die das Betriebsverfassungsgesetz ermöglicht, ermutigt uns, das allgemeine Wahlrecht für alle als richtigen und wichtigen Schritt für mehr politische Partizipation zu fordern.

Gegenargumente - und unsere Antworten

Dass man zu einem Staatsvolk gehören muss, um politische Rechte auszuüben, ist ein Einwand. Demokratie ist aber kein System nationaler Gleichheit, sondern gleicher politischer Rechte. Das Wahlrecht ist nicht zwangsläufig ein Privileg der Staatsbürger, sondern ein Freiheitsrecht jedes Menschen, der in einem demokratischen Staat lebt.

Wenn über fünf Millionen Bürger von der Mitbestimmung durch Wahlen ausgeschlossen sind, verliert die Demokratie an Legitimation. Wir wollen die Demokratie stärken. Die gesamte Bevölkerung soll mitentscheiden können, was ihr Leben bestimmt...

Workshop

Am 28. Juni findet in Berlin ein ver.di-Workshop zum Wahlrecht statt. Informationen und Anmeldung auf www.migration.verdi.de