Ein langer Weg: Kirsten Huckenbeck berät den bulgarischen Tagelöhner Biser Rusev

"Du hast Rechte - auch ohne Papiere", sagt Kirsten Huckenbeck, die Beraterin der ver.di-Beratungsstelle "MigrAr" in Frankfurt am Main, und schiebt einen Flyer über den Tisch. In zwölf Sprachen steht dort, um welche Rechte es geht: das Einklagen von Lohn, das Recht auf medizinische Versorgung und Lohnfortzahlung, das Recht auf Urlaub. Das Büro, in dem Kirsten Huckenbeck sitzt, ist die fünfte "MigrAr"-Anlaufstelle für Migrant/innen in prekären Arbeitsverhältnissen in Deutschland, neben Hamburg, Berlin, Köln und München. Zweimal im Monat hat das Büro im DGB-Haus geöffnet. Doch wenn die Türen wieder geschlossen sind, fängt die eigentliche Arbeit erst an, meist in der Freizeit und fast immer ehrenamtlich. Dann hilft Huckenbeck, diese Rechte durchzusetzen.

So wie an diesem Montagmorgen. Kirsten Huckenbeck ist mit dem Bulgaren Biser Rusev verabredet. Sie will ihn zum Sozialamt begleiten und wartet in der Redaktion des Express. Die Zeitung für Gewerkschaftsarbeit ist Kooperationspartner von "MigrAr", gemeinsam mit ver.di Hessen, dem ver.di-Migrationsausschuss, dem ver.di-Bezirk Frankfurt, der Initiative "Kein Mensch ist illegal" in Hanau und dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Der 37-jährige Bulgare kommt aus dem Fahrstuhl auf sie zu, langsam. "Wie geht es? Noch Schmerzen?", fragt Huckenbeck. "Nein", sagt er auf Deutsch und versucht, sein Humpeln zu verbergen. Erst vor wenigen Tagen hatte er einen Noteingriff. Jetzt wartet er auf die dringend nötige Operation, die ihn wieder gesund machen soll.

Biser Rusev stammt aus Wetowo im Norden Bulgariens, dem ärmsten Land der EU. Als Tagelöhner hatte er dort Ziegen gehütet. Regelmäßig sah er Busse nach Deutschland fahren. Wenn seine Landsleute zurückkamen, hatten sie Geld verdient. Auch er träumte vom besseren Leben, brach vor zwei Jahren auf. Bei Verwandten in Offenbach half er als Hilfsarbeiter auf einem Schrottplatz. Aber er blieb Tagelöhner, auch später in Frankfurt am Main, schlief im Auto, unter einer Brücke, zuletzt auf einer Matratze in einem Zimmer mit acht Landsleuten.

Dann begann das, was als Aufprall ganz unten enden sollte. Ein Freund erzählt ihm, wie man sich selbstständig macht, um endlich Arbeit zu bekommen. Man brauche nur einen Gewerbeschein. Der kostet Rusev 30 Euro. Mit dem Gewerbeschein bekommt er Arbeit auf dem Gelände der Infraserv GmbH. Laut Dienstausweis im Auftrag der Abbruch- und Industriemontagefirma O.A.M. auf dem Gelände des Standortbetreibers Infraserv Höchst. Angeheuert vom Geschäftsführer des Internet- und Exportcafés "Can 58". Nur: Er ist nicht krankenversichert.

Für sieben Euro pro Stunde soll Rusev in der Nachtschicht feuerfeste Steine austauschen. Er steigt die Leiter hinauf, verliert das Gleichgewicht. Aus vier Metern Höhe rutscht er ab und schlägt auf dem Boden auf. Schwer verletzt wird er vom Gelände gebracht. Sein direkter Auftraggeber, Can-58-Geschäftsführer Türkylmaz, fährt ihn in die Uniklinik und schärft ihm ein, es sei ein Privatunfall gewesen. Die Klinik will nicht ohne Kostenübernahme operieren. Man legt Rusev einen Katheter, dann wird er wieder entlassen. Innerhalb eines Monats müsse er operiert werden, sagen die Ärzte.

So landet er bei "MigrAr". Ab jetzt übernimmt Kirsten Huckenbeck für ihn den Gang durch die Behörden. Vorerst weigert sich das Sozialamt, die Operationskosten zu übernehmen. Es müsse ein Notfall sein, heißt es. Doch das Krankenhaus will nicht operieren, solange die Kostenübernahme nicht vorliegt. Mit einer Notfallbescheinigung der Elisabeth-Straßenambulanz kann Huckenbeck schließlich die Kostenübernahme beim Sozialamt erreichen. Mittlerweise sind drei Monate seit dem Unfall vergangen, eine Blutvergiftung droht. Die Operation muss in letzter Minute verschoben werden. Stattdessen erfolgt ein Noteingriff, fast zu spät.

Geduldete Billiglöhner

"Die Generalunternehmer und Subunternehmer lassen sich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vorlegen. Damit versuchen sie, sich ihrer Verantwortung zu entziehen", sagt Kirsten Huckenbeck. Das mache es schwer, jemanden zu finden, der für Sozialabgaben oder Arztrechnungen aufkommt. Im Fall von Rusev ermittelt die Polizei nun auch wegen möglicher Schwarzarbeit. Die Vermutung liegt nahe, dass er scheinselbstständig war. Zeichen dafür sind gestellte Arbeitsmittel und -kleidung, keine freie Entscheidung über die Arbeitszeit, weisungsgebundenes Arbeiten und in Rusevs Fall auch niedriger Stundenlohn. Eine prekäre Arbeitssituation, in die vor allem Bulgaren und Rumänen gedrängt werden, da für Menschen aus diesen Ländern die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Europäischen Union erst ab 2014 gilt. Mit dem Gewerbeschein in der Tasche sind sie geduldete Billiglöhner ohne Tariflohn und Sozialversicherung.

Doch an diesem Montagmorgen lächelt Rusev wieder. Er hat keine Schmerzen mehr. Vor allem aber ist er zuversichtlich, denn Kirsten Huckenbeck wird wieder wichtige Dinge regeln. "Hast du deinen Ausweis dabei? Die Papiere?", fragt sie. "Auch das gelbe Buch für Übersetzungen?" Rusev nickt.

Im Sozialamt werden sie von Herrn N. erwartet. Sie reden eine Stunde mit ihm. Rusev soll aus dem Krankenzimmer in der Notunterkunft Ostpark heraus. Und sie sprechen auch darüber, wie es nach der Operation weitergeht. Das Jobcenter braucht eine Bankverbindung, die bekommt man nur mit fester Meldeadresse. Rusev muss dafür nachweisen, dass er seit über einem Jahr in Deutschland gelebt und gearbeitet hat. "Das kann er", sagt Kirsten Huckenbeck. Herr N. verspricht daraufhin, eine Unterkunft zu beantragen. Es wäre ein Schritt raus aus der Not.

Zurück im Gewerkschaftshaus, treffen sie Bülent Oruc. Der gebürtige Türke arbeitet im Briefzentrum am Flughafen. Er ist Vorsitzender des ver.di-Migrationsausschusses in Frankfurt und Region und übersetzt ehrenamtlich für "MigrAr". Da Rusev zur türkischsprachigen Minderheit in Bulgarien gehört, spricht auch er türkisch. Vom Dolmetscher erfährt er nun die Details aus dem Gespräch mit dem Sozialamt. "Im Juni hast du einen Termin im Jobcenter", sagt Kirsten Huckenbeck, "um zu klären, was man für dich tun kann."

Die Berater/-innen von „MigrAr“ werben auch neue Gewerkschaftsmitglieder. Huckenbeck füllt das Blatt aus, Rusev unterschreibt. Am Nachmittag läutet das Telefon: Das Sozialamt hat eine Unterkunft gefunden. Erneut begleitet Kirsten Huckenbeck den Bulgaren. Der nächste Termin ist morgen: Rusev muss in die Klinik zum Fädenziehen. Huckenbeck wird ihn auch dorthin bringen.

Beratung und Hilfe

„MigrAr“ berät Einwanderer mit und ohne Papieren in prekären Arbeitsverhältnissen in Köln, Frankfurt am Main, Berlin, Hamburg und München. Kontaktdaten: www.migration.verdi.de

Der DGB berät im Rahmen seines Projekts "Faire Mobilität - Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial, gerecht und aktiv" in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt am Main und seit April auch in Stuttgart. Ein sechster Beratungsstandort ist geplant. www.faire-mobilitaet.de