Ausgabe 04/2014
Da stehen die Haare schon mal zu Berge
Friseurmeisterin Seval Ayar aus Dortmund mit ihren Auszubildenden vieler nationen, denen sie gern eine Chance gibt
Migrantinnen und Migranten haben es schwer auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Ihre Chancen sind auch heute noch schlechter als die von Menschen ohne Migrationshintergrund. Das gilt unabhängig davon, ob sie seit vielen Jahren in Deutschland leben, sogar schon hier geboren wurden oder erst in der letzten Zeit unter den Bedingungen der neuen Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU aus Osteuropa gekommen sind. Ganz wenige Ausnahmen gibt es, die Einwanderer aus Nord- und Westeuropa. Ihre Chancen auf einen guten Arbeitsplatz, der ihren Fähigkeiten und ihrer Qualifikation entspricht, stehen besser. Das sind allerdings laut Mikrozensus gerade einmal 475 000 Erwachsene.
Eine Kette von Nachteilen
Dass die Chancen für Migrant/innen nach wie vor schlecht stehen, ist das Fazit einer Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, die die Sozialwissenschaftlerin Jutta Höhne für eine ver.di-Tagung in diesem Frühjahr erarbeitet hat. "Nein", sagt Höhne, "überrascht hat mich dieses Resultat nicht. Trotzdem finde ich es bedenklich, das Ergebnis so eindeutig vor mir zu sehen." Einwanderer, egal welcher Generation, seien hierzulande in jedem Punkt benachteiligt: Sie könnten schwerer überhaupt auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen; ihre Zeugnisse, die sie zu Hause erworben haben, würden oft nicht anerkannt; und wenn sie einen Job fänden, dann müssten sie häufig auch Aufgaben übernehmen, für die sie eigentlich überqualifiziert seien - um nur überhaupt Arbeit zu finden. "Hinzu kommt: Sie verdienen meist weniger als deutsche Kolleginnen und Kollegen und stecken öfter als Deutsche in ungünstigen Beschäftigungsformen wie Soloselbstständigkeit, Teilzeit, obwohl sie das nicht wollen, und Leiharbeit. So ergibt sich eine ganze Kette von Nachteilen."
Gefährdet durch Hartz IV
In der Bundesrepublik leben circa 65,8 Millionen Menschen ohne Migrationshintergrund, 80,8 Prozent der Bevölkerung. 10,4 Millionen sind Einwanderer der ersten Generation, was 12,8 Prozent entspricht, und 5,2 Millionen gehören der zweiten Generation an, das sind 6,4 Prozent (Zahlen vom Mikrozensus 2011). Diskutiert wird im Moment wohl am meisten über die Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, aber besonders unter ihnen ist der Anteil von Hoch- und Fachschulabsolventen hoch. Generell haben unter den neuen Migrant/innen, die erst seit fünf oder weniger Jahren in Deutschland leben, 28,7 Prozent einen Hoch- oder Fachschulabschluss.
"Die deutsche Gesellschaft gewinnt durch die Zuwanderer, auch durch die aus Rumänien und Bulgarien", sagt Jutta Höhne. Es sei keine Frage, dass sie gebraucht werden. Der größte Teil von ihnen komme zudem mit einer hohen Bereitschaft hierher, sich möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. "Dass generell relativ viele Einwanderer keinen formalen Berufsabschluss vorweisen können, der unserem Facharbeiterabschluss entspricht, liegt auch daran, dass es in den meisten Ländern kein System der Berufsausbildung wie in Deutschland gibt."
Was sich ändern muss
Für besonders problematisch bei der Zuwanderung nach Deutschland hält Jutta Höhne zurzeit die komplizierten Aufenthaltsbestimmungen für Menschen aus Drittstaaten, die also nicht aus der EU kommen. "Wenn jemand aus einem solchen Land hier Arbeit sucht, aber nicht sofort welche findet, wirkt sich zum Beispiel der Bezug von Hartz IV negativ auf die Aufenthaltsgenehmigung aus", sagt sie. Oft drohe dadurch der Verlust der Genehmigung. "Er oder sie muss also so schnell wie möglich irgendeinen Job annehmen, egal welchen, um bleiben zu können." Das sei dann meist ein ganz schlechter Einstieg in den Arbeitsmarkt. Von dieser Ausgangsposition sei es sehr schwer, noch irgendwann einmal im Berufsleben eine Position zu erlangen, die der eigentlichen Qualifikation und den Fähigkeiten entspricht.
Die von manchen Politikern geforderte "Willkommenskultur" löst keines der Probleme, so Jutta Höhne. Wir brauchen in unserer Gesellschaft vielmehr allgemein eine noch größere Offenheit und ganz praktisch eine höhere Akzeptanz für ausländische Schul- und Berufsabschlüsse. Sie setzt sich auch für diskriminierungsfreie Auswahlverfahren in Unternehmen und im öffentlichen Dienst ein. "Menschen, die an Einstellungsverfahren beteiligt sind, also auch Betriebs- und Personalräte, müssen weiter für die Probleme der Einwanderer sensibilisiert werden. Seminare darüber sind ein guter Weg." Ebenso wichtig seien Sprachkurse für Neuankömmlinge, die müssten niedrigschwellig sein und möglichst sofort beginnen, wenn jemand in Deutschland eintrifft, stellt Jutta Höhne fest. Das alles sei wichtig.
Denn eines sei klar: Die in ihrer Untersuchung nachgewiesenen Nachteile auf dem Arbeitsmarkt seien wirklich auf den Migrationshintergrund der Menschen zurückzuführen. Die Berechnungen der WSI-Studie beziehen sich auf Menschen, deren Situation vergleichbar ist: Verheiratete im Alter von 40 Jahren, mit nahezu gleicher Bildung und einem Kind unter sechs Jahren. Sie leben in einem westlichen Bundesland mit durchschnittlicher Arbeitslosigkeit. Unterschiedliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt ergeben sich also aus der Tatsache, dass es um Einwanderer geht, aus nichts anderem.
Dokumentation der ver.di-Tagung "Beschäftigungschancen für Menschen mit Migrationshintergrund" auf http://arbeitsmarkt-und-sozialpolitik.verdi.de
Damals schon gewusst
Geschichte - Veröffentlichung des London Trades' Council vom 5. Dezember 1863
Eine Verbrüderung der Völker ist für die Arbeitersache höchst notwendig, denn immer, wenn wir versuchen, unsere soziale Lage durch Verkürzung der Arbeitszeit oder Erhöhung der Löhne zu bessern, drohen unsere Fabrikanten, sie würden Franzosen, Deutsche, Belgier und andere herüberbringen, um unsere Arbeit zu geringem Lohn ausführen zu lassen; und wir müssen leider feststellen, dass dies auch wirklich geschehen ist, nicht aus der Absicht unserer Brüder auf dem Kontinent, uns zu schaden, sondern wegen des Mangels an regelmäßigen, systematischen Verbindungen zwischen den Arbeiterklassen aller Länder, die wir bald verwirklicht zu sehen hoffen. Unser Ziel ist es, die Löhne der schlechter Bezahlten soweit wie möglich an die der besser Bezahlten anzugleichen und es unseren Arbeitgebern nicht zu erlauben, uns gegeneinander auszuspielen und uns auf das niedrigste Niveau herunterzudrücken, das ihrem geizigen Handeln zupass kommt.
(An die Arbeiter Frankreichs von den Arbeitern Englands)
Sie werden gebraucht
Um Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, und ihre Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt geht es in diesem Spezial „Migration“. Im Gegensatz zu dem, was an manchem Stammtisch geredet wird, wollen die Zuwanderer hier arbeiten, sind oft gut ausgebildet und motiviert. Sie bereichern unsere Gesellschaft - und werden gebraucht. Attila genauso wie Ivan.