Der 30. September war eine Art Schicksalstag für die ostthüringische Stadt Gera. An diesem Tag eröffnete das Amtsgericht die Insolvenz gegen die Stadtwerke Gera und ihre Tochter, die Geraer Verkehrsbetriebe (GVB). Erstmalig in der Bundesrepublik wird damit ein Insolvenzverwalter, der Anwalt Michael Jaffé aus München, in kommunalen Unternehmen tätig.

Die Geraer bekamen die Auswirkungen der Insolvenz sofort zu spüren. Die GVB schränkte ihr Angebot deutlich ein. Das merkt auch Ilona Ruderisch täglich auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz im Kaufland in Gera Bieblach-Ost. Dorthin fährt sie jeden Tag vom Geraer Stadtteil Ernsee mit dem Bus und der Straßenbahn. Jetzt macht ihr insbesondere abends das eingeschränkte Angebot den Heimweg schwer. Um in der Innenstadt den letzten Bus nach Ernsee zu erwischen, müsste sie in Bieblach-Ost die Bahn um 19 Uhr 58 nehmen - unmöglich, wenn ihre Schicht frühestens um 20 Uhr endet.

"Jetzt muss mein Mann mich abholen oder ich muss eher aufhören", sagt Ilona Ruderisch. Doch ob das immer möglich sein wird, bezweifelt sie. Das Angebot sei gerade in den Randbezirken stark ausgedünnt worden, betroffen seien neben Berufstätigen auch viele Jugendliche. Auch sie seien jetzt viel öfter darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie fahren.

Mit diesen Kürzungen will Insolvenzverwalter Jaffé das Defizit der GVB von jährlich 4,5 Millionen Euro um 1 Million Euro senken. Dabei ist das Verkehrsunternehmen der drittgrößten Stadt Thüringens schon heute eins der profitabelsten bundesweit. Mit einem Kostendeckungsgrad von 82,5 Prozent liegt es über dem Durchschnitt vergleichbarer Unternehmen.

Alles rein finanziell bedingt

Anfang Oktober bekamen 31 der 290 Beschäftigten die Kündigung, verbunden mit dem Angebot, in eine Transfergesellschaft zu wechseln. Zwei weitere sind in der Zwischenzeit ausgeschieden, weitere acht in den Ruhestand gegangen. "Keiner der 31 Kollegen hat das verdient", sagt der Betriebsratsvorsitzende Thomas Heinzl, "das sind alles gute Leute." Es sei eine rein finanziell bedingte Entscheidung gewesen. Die Stimmung unter den verbliebenen Beschäftigten sei schlecht, groß sei die Angst, dass die bisher vorgenommenen Kürzungen nicht ausreichen.

Heinzl weist darauf hin, dass der öffentliche Personennahverkehr überall ein Zuschussgeschäft ist. Bislang wurde er in Gera aus den Gewinnen der Energieversorgung über die Stadtwerke querfinanziert. Diese Gewinne seien jedoch eingebrochen, weil sich in Folge der Energiewende in Deutschland die Kraft-Wärme-Kopplung derzeit nicht lohne. In diese Form der Energiegewinnung hatte die Energieversorgung Gera GmbH, eine weitere Tochter der Stadtwerke, investiert, 1996 wurde das Kraftwerk Gera-Nord in Betrieb genommen. Durch die geänderten Bedingungen wurde jetzt eine Sonderabschreibung nötig, für die keine Rücklagen vorhanden waren.

Doch darin ist nicht allein der Grund für die Insolvenz zu sehen. Insgesamt ist die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt schlecht, Einnahmen fehlen. Ende 1989 lebten noch 135.000 Menschen in der Stadt, trotz zwischenzeitlicher Gebietsreform waren es Ende 2013 nur noch knapp 95.000. Große Unternehmen aus den Bereichen Textil, Maschinenbau oder Elektronik brachen nach der Wende weg. Die Arbeitslosigkeit lag im September offiziell bei 10,6 Prozent, die höchste Quote in Thüringen. Der DGB-Kreisvorsitzende Thomas Elstner schätzt, dass jede/r Dritte in Gera direkt oder indirekt von Hartz IV betroffen ist. Größte Arbeitgeber seien mittlerweile die Stadtverwaltung, die Stadtwerke-Töchter und das Krankenhaus. "Kein privates Unternehmen hat hier mehr als 1000 Arbeitsplätze", sagt der Gewerkschafter. Seit vielen Jahren verlassen insbesondere junge Menschen die Stadt. Hinzu komme eine immer schlechter werdende Verkehrsanbindung. "Es ist hoffnungslos", sagt er fast schon resignierend.

Kein Spielraum mehr

Bei dem Versuch, die Insolvenz noch abzuwenden, hatten ver.di, der DGB, die Initiative soziale Gerechtigkeit und die GVB-Beschäftigten im Spätsommer fast 10.000 Unterschriften gesammelt. Doch das Land war nicht bereit, den Haushalt der Stadt zu genehmigen oder über Bürgschaften Spielräume für neue Konzepte zu schaffen. "Es war wohl nicht vorgesehen, die Insolvenz abzuwenden", sagt Elstner. Die bisherige schwarz-rote Landesregierung habe wohl gewollt, dass sie eintritt.

Doch ob die nach den Wahlen Mitte September wahrscheinliche rot-rot-grüne Landesregierung das jetzt, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, noch ändern kann, ist fraglich. Nach Plänen, die der Insolvenzverwalter Mitte Oktober dem Stadtrat in einer nicht öffentlichen Sitzung vorgestellt hat, will er die Anteile der Stadtwerke an der Wohnungsbaugesellschaft Elstertal verkaufen - sprich eine weitere Privatisierung.

Doch Privatisierungen will ver.di-Landesbezirksleiter Thomas Voß in jedem Fall verhindern. Die Daseinsvorsorge müsse über eine öffentliche Einrichtung wie die Stadtwerke gewährleistet werden, damit sich die Geschäftspolitik nicht an den Gewinninteressen von Privatfirmen orientiere, sondern an den Bedürfnissen von Bürger/innen. Er sieht in der Insolvenz einen Präzedenzfall mit erheblichen Auswirkungen auf ganz Deutschland. Denn bisher hätten Einrichtungen der öffentlichen Hand immer als besonders sicher gegolten. Jetzt sei deren Kreditwürdigkeit stark erschüttert worden.