"Wir brauchen einen Schutzhelm für den digitalen Arbeiter"

Der TÜV Rheinland bietet ein Modul zum Digitalen Arbeitsschutz an. Sabria David vom Slow Media Institute hat die Theorie dazu entwickelt

Prolog

Einst ging es um Dampfmaschinen: Fauchende Ungetüme, die das Herz der Fabriken waren. Wer Geld verdienen wollte, heizte die Kessel. Es zischte und brodelte in Deutschland. Doch leider flogen die Wunderwerke den Menschen auch immer wieder um die Ohren. 1866 gründeten Unternehmen zusammen den ersten Dampfkessel-Revisions-Verein: Experten sollten ihre Anlagen nach Standards prüfen. Die Zahl der Unfälle ging drastisch zurück.

Der digitale Wandel gefährdet die Gesundheit

Sabria David gefällt diese Geschichte. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und beschäftigt sich mit digitalem Wandel. Und sie hat sich an die Nachfolger der Dampfkessel-Revisoren gewandt, um dafür Sorge zu tragen, dass die Technik von heute den Menschen, die mit ihr arbeiten, nicht im übertragenen Sinn um die Ohren fliegt: Zusammen mit dem TÜV Rheinland hat David ein Verfahren zum Schutz vor digitaler Informationsflut entwickelt. Unter dem Oberbegriff "Digitaler Arbeitsschutz" wurde eine Basis geschaffen, den angemessenen Medienumgang im Unternehmen zu fördern und ein kooperatives, positives Leistungsklima im digitalen Arbeitsumfeld zu etablieren. Seit Mai ist das Verfahren am Start. Arbeitgeber können hier prüfen lassen, ob sie den digitalen Wandel nachhaltig angehen und ihre Mitarbeiter ausreichend vor dessen negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit schützen.

In einer Ladenwohnung in der gemütlichen Bonner Altstadt betreibt Sabria David das Slow Media Institute. Unter dem Monitor stapeln sich Bildbände, auf einer zerfurchten Hobelbank lagern Bücher, und der Cappuccino wird in Sammeltassen vom Trödel serviert. Im Hinterhof kriecht Efeu über die Mauern. Aber die Internetverbindung zur Welt ist blitzschnell. Slow Media - das definiert Sabria David wie Slow Food: Slow ist nicht mit "langsam" zu übersetzen, sondern bedeutet "von Achtsamkeit und Aufmerksamkeit geprägt".

Sabria David beschreibt Dampfkessel wie Digitalisierung als disruptive Techniken, das heißt, sie haben die Gesellschaft stark verändert. Und so, wie die Dampfkessel geprüft worden sind, so müsse es auch für die digitale Arbeit Standards geben, um die Menschen vor den Folgen zu schützen. "Der Fehlzeiten-Report der AOK spricht da eine klare Sprache", sagt Sabria David. "Die Zahl der burnout-assoziierten Fehlzeiten hat sich seit 2004 vervielfacht." In der gleichen Zeit hat sich die Arbeit rasant gewandelt. Die Flut von E-Mails steigt, seit 2007 sind die Daten über Smartphones im großen Stil mobil. Die Technik macht es möglich, allzeit bereit zu sein, die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem verschwimmen.

Grenzen, die wichtig sind, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. "Wir brauchen einen Schutzhelm für den digitalen Arbeiter", sagt David. So wie Stress-Management und Work-Life-Balance heute schon zum betrieblichen Gesundheitsschutz gehören, muss auch die Prävention in der Medien-Nutzung normal werden. Sei sie aber nicht, weil das Thema noch so neu ist. "Genau das aber ist die Hauptquelle der ganzen Belastungen", so Sabria David.

Zertifikat "Ausgezeichneter Arbeitgeber"

"Ja, das ist eine Mobilfunknummer", sagt Arne Spiegelhoff gleich. Aber nein, er sei nicht im Urlaub und habe auch noch nicht Feierabend. Er sei im Dienst. Sonst würde er jetzt auch nicht zurückrufen, denn in seinem Unternehmen gelten da klare Regeln. Arne Spiegelhoff ist Referent der Geschäftsführung der TÜV Rheinland Cert GmbH und hat die Zertifizierung zum "Ausgezeichneten Arbeitgeber" mit auf den Weg gebracht. In einem Audit können Unternehmen überprüfen lassen, ob die Arbeitsverhältnisse den vom TÜV definierten Standards genügen. Interessant ist das unter anderem für Bewerber, denen das Zertifikat signalisiert, womit sie rechnen können. "Digitaler Arbeitsschutz" ist ein Zusatzmodul zu diesem Siegel. "Auch im digitalen Bereich gibt es ein Bedürfnis nach Qualität, Sicherheit und klaren Leitlinien", sagt Spiegelhoff. "Die mediale Präsenz des Themas zeigt, wie wichtig das für Arbeitnehmer und Unternehmen ist." Der Kessel ist am Brodeln.

Die Räume, in denen Arne Spiegelhoff arbeitet, sind ein krasser Gegenpol zu Sabria Davids kreativem Laden. Alles folgt hier einer Norm, sogar der Moderationskoffer im Besprechungszimmer liegt im rechten Winkel zur Wand. Hier trafen die Kulturwissenschaftlerin und der Berater aufeinander.

Kommunikation in einem nie enden wollenden Strom

Das Phänomen, das Sabria David theoretisch beschreibt, gehört bei Arne Spiegelhoff - wie bei so vielen - ganz praktisch zu seinem Alltag. Kaum ist das Gespräch vorbei, klappt er seinen Laptop hoch, loggt sich ein und studiert seine Mailbox. Post von Kunden. Aber auch von Kollegen. Interne und externe Kommunikation in einem nie enden wollenden Strom. Viele Mails sind überflüssig, da hat irgendwer einen einfach mal in CC gesetzt. Die könnte man ignorieren. Aber einige sind wichtig. Man droht in der Flut abzusaufen und strampelt, um sich zu retten.

Neben ihrer theoretischen Arbeit ist Sabria David auch als Beraterin unterwegs. Sie unterstützt Unternehmen dabei, ihre medialen Prozesse zu strukturieren. Denn in der Arbeit von heute treffen neue Anforderungen auf alte Muster. "Wenn man früher zeigen wollte, dass man sich engagiert, blieb man abends zwei Stunden länger im Büro und ging erst dann nach Hause", sagt sie. "Dies Verhaltensmuster ist geblieben. Aber der Kontext hat sich ins Digitale verlagert. Und das fordert mehr Kraft und Aufmerksamkeit." In ihren Analysen beschreibt David den Arbeitsplatz als Revier, in dem die Mitarbeiter sich bewegen und im Blick haben. "Der berufliche Interaktionsraum hat sich auf 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche ausgeweitet", sagt sie. Wer nicht erreichbar ist und nicht zur Verfügung steht, ist in der Defensive.

Menschen seien zudem so geprägt, dass sie gerne schnell reagieren wollen. "Für eine Mail unterbrechen wir, was wir gerade tun. Wir empfinden es als unhöflich, andere warten zu lassen, bis wir mit unserer Arbeit fertig sind", sagt David. Aber auch die Unternehmenskultur trage dazu bei, zum Beispiel dadurch, wie stark intern geäugt wird, wer wann antwortet. "In vielen Unternehmen gibt es eine Kluft zwischen Theorie und Praxis: In der Theorie muss niemand abends oder im Urlaub seine Mails lesen. In der Praxis machen es fast alle."

Dazu kommt, dass die Technik die Kommunikationsflut befördert. Mit einem Klick kann jeder ganz viele Menschen in CC setzen. Es kostet ihn nichts. Aber es kostet die anderen Aufmerksamkeit und Kraft. "So belastet jeder jeden", sagt die Kulturwissenschaftlerin. "Der Mensch braucht, um gesund zu funktionieren, auch Leerlauf."

"Eine Regel allein reicht da nicht", ist Sabria David überzeugt. Es gehe um einen systematischen, ganzheitlichen Blick in den Unternehmen. "Das muss ein Prozess sein, wo alle in regelmäßigen Abständen zusammenkommen und überlegen: Wo sind die Stellschrauben? Was kannst du tun, damit das mediale Klima sich entspannt und die Leute konzentriert arbeiten und sich auch erholen können?" Wichtig sei ein Kommunikationsklima, in dem man über solche Themen reden kann. Aber auch der Einzelne müsse lernen, sich zu entziehen - gerade bei der Nutzung digitaler Medien -, Dinge auszulassen, möglicherweise auch mal etwas zu verpassen, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren und sich in eine Aufgabe zu versenken.

Solche Prozesse stößt das Modul "Digitaler Arbeitsschutz" vom TÜV Rheinland an. Konkret bedeutet das: Das Unternehmen muss klar und dokumentiert regeln, wie die Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit gehandhabt wird. Etwa dass Anrufe und Mails nach Feierabend und am Wochenende untersagt sind. Es kann festlegen, welche Ausnahmen es gibt und wie diese ausgeglichen werden. Es kann auch überlegen, wie Teams und Organisationen die E-Mail-Flut eindämmen können. "Hier spielen Vorgesetzte eine wichtige Rolle. Sie können Informationen sinnvoll filtern, gezielt delegieren und so unnötige E-Mails vermeiden", sagt Arne Spiegelhoff.

Ein Projekt für die Zukunft

Für die Zertifizierung zählen auch Fragen wie: Sind die Themen aus dem digitalen Datenschutz in der Beschreibung der Prozesse verankert? Mitarbeiter müssen das nachlesen können. Sie müssen sich mediale Freiräume schaffen können, ohne dass ihnen das schadet. Und sie müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn ihnen dabei Steine in den Weg gelegt werden - dafür soll das Unternehmen einen Beauftragten für den digitalen Arbeitsschutz benennen.

Bald ein Jahr gibt es das Modul jetzt. Bislang hat sich kein Unternehmen zertifizieren lassen. Zwar haben viele nachgefragt. Aber die meisten stellten dann fest, dass sie noch einiges tun müssen, bevor sie die Kriterien erfüllen.

Noch bevor das Projekt "Digitaler Arbeitsschutz" auf dem Weg war, haben Arne Spiegelhoff und seine Kollegen sich zusammengesetzt und einen Selbstversuch gestartet: Sie haben überlegt, wie sie für sich die Dinge einfacher machen könnten. Jetzt kennzeichnen sie die interne Post. A steht für "Ich erwarte eine Antwort", R für "Ich erwarte eine Review" und I für: "Nur zur Information". Das sortiert das Eingangsfach, die Stapel werden überschaubar. Und der Kopf ist wieder freier für zusammenhängende Gedanken.