"Wir lassen unsere Mitarbeiter nicht hängen", verspricht die Handelskette Real auf ihrer Homepage. Offline drängt sich da ein völlig anderer Eindruck auf. Am symbolträchtigen 17. Juni ließ die Geschäftsführung die Bombe platzen und verkündete den Ausstieg aus dem Flächentarif des Einzelhandels. Lohnerhöhungen werden künftig nicht gezahlt, weil man "OT" geworden ist - das Kürzel steht für "ohne Tarifbindung".

Unmittelbar betroffen sind knapp 40.000 Beschäftigte in den etwa 3 000 Selbstbedienungs-Warenhäusern, die zum Metro-Konzern gehören. Doch der Schritt erhöht auch die sozialen Risiken in der Branche. "In keinem Wirtschaftszweig gibt es so viel unverschämten Reichtum und so viel verschämte Armut", heißt ein ver.di-Argument für bessere Tarife. Das trifft den Kern.

Auch die Eigner der Metro Group - unter anderem die Familie Haniel - gehören zu den Superreichen, und die Veräußerung von Galeria Kaufhof könnte neue Gelder in ihre Kassen bringen. Zugleich arbeiten selbst beim bisherigen Tarifunternehmen Real auch Frauen, die ihre Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssen, weil sie wegen geringer Stundenzahlen zu wenig verdienen.

Im Einzelhandel sind nach letzten offiziellen Zahlen etwa 150.000 Menschen auf Zusatzleistungen angewiesen. Arm trotz Arbeit, das ist hier keine Ausnahme mehr. Einer der Gründe: Im Jahr 2000 haben die Arbeitgeberverbände eine Spirale nach unten in Gang gesetzt, als sie die OT-Mitgliedschaften einführten. Bis dahin war es Konsens zwischen den Tarifparteien, die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge beim Arbeitsministerium zu beantragen. Alle im Einzelhandel mussten sich danach richten. Jetzt aber verschaffen sich viele Unternehmen Vorteile durch Tarifdumping. Das reicht von den privaten Läden bei Edeka oder Rewe bis hin zu Globus und Amazon.

Kaum noch erträgliche Arbeitsbelastung

Um die vom Metro-Konzern beklagte Wettbewerbsverzerrung zu durchkreuzen, hatte ver.di-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger im April erneut vorgeschlagen, sich wieder gemeinsam für die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge einzusetzen. Der jetzt eingeschlagene Weg weist in eine andere Richtung: Real trommelt für den Abschluss eines Haustarifvertrags, der uns "nachhaltig leistungsfähig macht". Kaum jemand bezweifelt, dass es dabei knallhart nur um eines geht: um niedrigere Personalkosten.

Doch dem sind in mancher Hinsicht Grenzen gesetzt: An die ungekündigten Manteltarifverträge mit ihren Regelungen zu Arbeitszeitdauer, Zuschlägen und Sonderzahlungen muss sich das Unternehmen ohne Abstriche halten, ver.di-Mitglieder haben darauf einen Rechtsanspruch. Und die bisherigen Lohn- und Gehaltstarifverträge wirken für sie nach. Künftige Erhöhungen muss und wird Real aber nicht weitergeben. Dennoch strebt das Unternehmen einen noch günstigeren Haustarif an.

Dabei hat die Arbeitsbelastung oft schon ein fast unerträgliches Ausmaß erreicht. Insbesondere an den Kassen, wo Zeitstress, Lärm und stark beschränkte Möglichkeiten für Kurzpausen an den Nerven zerren, wird noch Einsparpotenzial gesehen. So jedenfalls der Verdacht aus Expertenkreisen. "Wollen Sie Kassiererinnen zukünftig schlechter bezahlen?" fragen in einem offenen Brief die drei Gewerkschaftsvertreter im Real-Aufsichtsrat. Auch die Befürchtung, dass der Arbeitgeber die Arbeitszeit und die Zuschläge ändern will, wird geäußert.

Vor der Gefahr eines "Flächenbrands" warnt Werner Klockhaus, der Vorsitzende des Konzernbetriebsrats bei der Metro AG und des Real-Gesamtbetriebsrats: Ein Haustarifvertrag mit schlechteren Konditionen könnte schnell weitere Händler veranlassen, die Tarifbindung an die Branche aufzugeben. Er sagt: "Ich sehe in einem Haustarifvertrag keinen Vorteil, im Gegenteil." Verhandlungen dazu lehnte die zuständige ver.di-Tarifkommission Anfang Juli ab. Im Gespräch mit Real forderte sie in Düsseldorf dazu auf, die Tarifflucht durch einen Anerkennungstarifvertrag zu beenden. Jetzt sei entschlossenes Handeln der Beschäftigten gefragt, hieß es nach dem Treffen: "Im Betrieb, in der Öffentlichkeit und - wenn nötig - auf der Straße."