Heinrich Hannover war Anwalt von Kommunisten und in Terroristen-Prozessen, hatte Kriegsdienstverweigerer und Günter Wallraff als Mandanten - und schreibt bis heute Kindergeschichten. Einer der großen Juristen dieses Landes ist jetzt 90 geworden

"Es ist ein wahnsinniger Zufall, dass es mich noch gibt", sagt Heinrich Hannover und greift sich hinter die linke Schulter. Ein Granatsplitter hat ihn dort getroffen, 1945, neben der Wirbelsäule. "Vielleicht hat es mir das Leben gerettet, dass ich ins Lazarett kam und nicht mehr kämpfen musste." Der Bremer Rechtsanwalt im Ruhestand weiß noch genau das Datum: "Jedes Jahr feiere ich den 27. April als Tag der Lebensrettung." Sein regulärer Geburtstag ist der 31. Oktober. Zählt man die Lebensjahre vor und nach der Verwundung zusammen, kommt man auf genau neunzig. Grund genug zum Feiern, wenn auch nur im Familienkreis.

Verdient hätte Hannover eigentlich einen öffentlichen Empfang, mit Würdigung seines Lebenswerks. Denn nicht nur die Süddeutsche Zeitung hält ihn für "einen der großen Rechtsanwälte dieses Landes". Er selbst sieht sich als "Anwalt der kleinen Leute, der politisch oder religiös verfemten Minderheiten" und der gegen Kapitalismus und Krieg aufbegehrenden Generation.

Kriminelle Vereinigung gebildet

Dabei wollte er ursprünglich nur Förster werden. Sein erzkonservativer Vater hatte ihm von diesem Beruf vorgeschwärmt, wurde dann selber aber Klinik-Chefarzt im vorpommerschen Anklam. Sohn Heinrich übte schon mal sieben Monate als Waldarbeiter. Um zum höheren Forstdienst zugelassen zu werden, trat er in die NSDAP ein - "mit der Naivität eines 17-Jährigen", wie er heute ohne spürbare Scham sagt, während er in Strickjacke und Cordhose auf dem Sofa seines einsamen Holzhauses in der niedersächsischen Pampa sitzt. Dann kam der Krieg dazwischen. Fronteinsätze, Verwundung, zwei Wochen US-Kriegsgefangenschaft. Mit zwei Kameraden stahl er sich sein Essen zusammen. "Wir haben da eine kriminelle Vereinigung gebildet", konstatiert der Strafrechtler, während sich unter seinem Bart ein verschmitztes Lächeln zeigt.

In den Nachkriegswirren verschlug es ihn zu einem Onkel nach Kassel. Dort erreichte ihn per Postkarte die Nachricht, dass seine Eltern nicht mehr lebten: Selbstmord aus Angst vor den Russen. Das einst wohlbehütete Einzelkind war mit 19 Jahren Vollwaise.

Die Grauen des Krieges, für ihn waren sie eine Lehre fürs Leben. Der einstige Hitlerjunge und Unteroffizier mutierte zum Pazifisten. Auch deshalb wäre er als Förster eine Fehlbesetzung gewesen. "Ich könnte kein Tier töten und ausweiden. Ich wäre ein lächerlicher Förster geworden."

Aber warum Jurist statt Waidmann? "Mir fiel einfach nichts Besseres ein." Als junger Anwalt in Bremen hoffte er auf lukrative Mandate von Kaufleuten und Hauseigentümern. Zunächst klappte das auch. Bis sich herumsprach: "Der Hannover verteidigt Kommunisten!" Das tat er tatsächlich, aber anfangs voller Distanz. Ausgerechnet er, dem schon als Kind die Kommunistenangst eingebläut worden war, wurde vom Landgericht Bremen 1954 als Pflichtverteidiger eingesetzt für einen linken Demonstranten, der angeblich einen Festgenommenen hatte befreien wollen. Mehrere Zeugen entlasteten den Angeklagten. "Aber das waren ja auch alles Kommunisten", sagt Hannover, und deshalb habe das Gericht ihnen nicht geglaubt.

Er brauchte noch weitere solcher Erfahrungen, bis er selber nach links rückte und sich als unabhängigen, freischwebenden Sozialisten definierte. Den entscheidenden Anstoß dazu gaben Prozesse gegen kommunistische Widerstandskämpfer gegen die Naziherrschaft, die wegen politischer Aktivitäten in der Bundesrepublik vor Gericht landeten. Sie zu verteidigen, "habe ich mit Herzblut gemacht", sagt Hannover. "Wegen Hochachtung vor ihrer Lebensleistung."

Zum Beispiel Wilhelm Meyer-Buer. Die Nazis hatten ihn für sieben Jahre in Zuchthaus und KZ gesteckt. Bis zum KPD-Verbot 1956 leitete er die Bremer KPD-Bürgerschaftsfraktion. 1961 kandidierte er als Parteiloser für den Bundestag und endete eine Wahlkampfrede mit dem Satz: "Wählen Sie den Kommunisten Meyer-Buer!". Man glaubt es heute kaum, aber dieser Satz brachte ihm, trotz seines engagierten Verteidigers, eine Bewährungsstrafe ein - wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot.

Gegen hanebüchene Falschaussagen

Allmählich sprach sich auch bundesweit herum, dass Hannover der rechte Anwalt für Linke sei. Mal vertrat er den Frankfurter Apo-Anführer Daniel Cohn-Bendit, dem 1968 ein Sprung über ein Polizeigitter angekreidet wurde. Nach monatelangem Gang durch die Instanzen wurde das Verfahren eingestellt. 1968 und 1975 paukte Hannover den Undercover-Journalisten Günter Wallraff raus: Freispruch vom Vorwurf der Amtsanmaßung und der Verwendung falscher Ausweispapiere.

Besonders aufreibend waren die Jahre der Terroristenprozesse. Gemeinsam mit anderen Anwälten bewahrte Hannover 1977 den in eine tödliche Schießerei geratenen Karl Heinz Roth vor einer Verurteilung wegen Mordes, ebenso 1980 die RAF-Mitbegründerin Astrid Proll. "Den Ankla- gen lagen hanebüchene Falschaussagen zu Grunde", findet Hannover.

Zu seinen Mandantinnen zählte auch RAF-Gründerin Ulrike Meinhof. Doch bevor sie vor Gericht gestellt wurde, legte er sein Mandat nieder. Sie verlangte von ihm, dass er auch "die Praxis der RAF mitverteidigen sollte", wie er sagt. Er als Pazifist? Nein danke! Zweimal versuchte der Linksanwalt, prominenten Nazi-Opfern posthum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er betrieb eine Wiederaufnahme des Landesverratsverfahrens von 1931 gegen Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky - vergeblich. Und er unterstützte die Tochter des 1944 ermordeten KPD-Chefs Ernst Thälmann dabei, einen Mittäter vor Gericht zu bringen. Anfangs klappte das, aber am Ende stieß der angeklagte SS-Mann doch noch auf Richter, "die den üblichen Freispruch verkündeten".

Da freut sich der Pazifist

Flammende Plädoyers hielt Hannover nicht nur als Strafverteidiger, sondern auch vor Verwaltungsgerichten: Er vertrat Tausende von Militärgegnern, die auf ihre Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer klagten. "Meistens haben wir gewonnen", sagt Hannover. Seine Rechnungen gingen dann an den Bund. "Ich habe die Bundeswehr einen kleinen Panzer gekostet." Da freut sich der Pazifist.

Was auch immer man halten mag von Hannovers Weltsicht - sein Engagement ist für viele vorbildlich. Es brachte ihm 1973 den Fritz-Bauer-Preis und seitdem noch sechs weitere Auszeichnungen sowie zwei Ehrendoktorwürden ein.

Aber er erntete auch viel Gegenwind. Richter warfen ihm "standeswidriges Verhalten" vor, weil er mal aus Protest die Gerichtstüren knallen ließ oder von "Klassenjustiz" sprach oder Meinhofs Haftbedingungen als "Folter" bezeichnete. 1978 verurteilte ihn ein Ehrengerichtshof sogar zu einer Geldbuße: 3.000 D-Mark, also gut 1.500 Euro.

Viel schlimmer aber fand er die Umtriebe anonymer Feinde: Beschimpfungen und Drohungen zuhauf, selbst wenn eines seiner Kinder am Telefon war: "Heute Nacht wird dein Vater ermordet." Und trotzdem machte er immer weiter.

Was hat ihn angetrieben? Hannover muss überlegen. In seinem geräumigen Wohn- und Arbeitszimmer, vollgestopft mit zwei Sitzecken, zwei Schreibtischen und wandfüllenden Bücherregalen, sagt er schließlich: "Ich leide darunter, wenn ich sehe, dass Menschen zu Unrecht im Gefängnis sitzen."

Noch heute, 20 Jahre nach seiner Pensionierung, schreibt er Aufsätze für die linke Zeitschrift Ossietzky, "wenn das Fass meiner Wut auf die politischen Weltverhältnisse überschäumt".

Doch der manchmal scharfzüngige und türenknallende Strafrechtler hat auch eine warmherzige Seite: Für seine sechs Kinder aus erster Ehe, das jüngste starb 1969 mit nur sieben Jahren an Leukämie, erfand er Gute-Nacht-Geschichten, und dank einer befreundeten Literaturagentin wurden sie dann auch gedruckt. Sein Erstlingswerk von 1968: Das Pferd Huppdiwupp. Die Gesamtauflage seiner 20 Kinderbücher kann er nur schätzen: "Vielleicht eine Million." Lachend fügt er hinzu: "Es wäre schön, wenn meine politischen Bücher auch so große Auflagen hätten." Davon hat er immerhin elf geschrieben, sein erstes 1962: Politische Diffamierung der Opposition im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Ein neuer Sammelband mit jüngeren Aufsätzen ist noch in Arbeit. Und auch mit Kindergeschichten ist noch nicht Schluss. Kein Wunder, bei fünf Enkeln und einem Urenkel.

Worauf es ankommt

Seit 1982 wohnt er mit seiner zweiten Frau Doris in einem ausgebauten "Schwedenhaus" mit riesigem Garten, 40 Kilometer außerhalb Bremens am einsamen Ortsrand von Worpswede. Früher ist er von dort zu Lesungen aufgebrochen. Aber die Augen wollen nicht mehr so. "Rechts habe ich Sehstärke Null." Ausgerechnet rechts, wo seine politischen Gegner sitzen. Klavier spielt der Klassikliebhaber nur noch selten; das Singen im Kirchenchor hat er ganz aufgegeben. Und sein Rücken ist gebeugt, nach Jahrzehnten des aufrechten Gangs. Aber die grauen Zellen, sie funktionieren noch.

Mit 90 darf man auch mal übers Ableben reden. Welches Motto würde er über seine Todesanzeige schreiben lassen? Hannover überlegt ein bisschen, dann fällt ihm ein leicht abgewandeltes Marx-Zitat ein: "Es kömmt drauf an, die Welt zu verändern."

"Ich könnte kein Tier töten und ausweiden. Ich wäre ein lächerlicher Förster geworden"