Für den auskömmlichen Ruhestand haben die Eidgenossen das Solidarprinzip - mit unbegrenzten Beiträgen und maximaler Rente. Teil 2 unseres Generationen-Streifzugs durch die europäischen Rentensysteme

Von Hermann Schmid

In der Schweiz gibt es "recht viel Solidarität, aus hohen Erwerbseinkommen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Ehegatten, zwischen Kinderlosen und Eltern". So sieht Colette Nova die eidgenössische Praxis der Vorsorge fürs Alter. Zuvor fünfzehn Jahre beim Schweizer Gewerkschaftsbund beschäftigt, weiß die heutige Vizedirektorin des Bundesamts für Sozialversicherung dieses Prinzip sehr zu schätzen.

Sie findet, in Deutschland werde auf das Risiko der Invalidität "nicht genügend geachtet". In der Schweiz dagegen könne schon ein 18-Jähriger "lebenslang eine Invalidenrente" und im Alter dann die Mindestrente beziehen, eventuell mit "Ergänzungsleistungen".

Die drei Säulen

Auch in der Schweiz ruht die Altersversorgung auf drei Säulen: der staatlichen, der betrieblichen und der privaten Rentenversicherung.

Die erste Säule soll den Existenzbedarf angemessen decken, so schreibt es die Verfassung als Leistungsziel vor. Sie umfasst die 1948 geschaffene "Alters- und Hinterlassenenversicherung" (AHV), die 1960 eingerichtete Invalidenversicherung (IV) und die Ergänzungsleistungen.

Ziel der zweiten Säule - einer reinen Arbeitnehmerversicherung, die nach dem Prinzip der Kapitaldeckung funktioniert - ist es, die gewohnte Lebenshaltung in angemessener Weise fortzusetzen. Den jeweiligen Zusatzbedarf abdecken soll schließlich die dritte Säule der individuell zu vereinbarenden und über Steuervorteile geförderten privaten Vorsorge (dies wird hier nicht weiter vertieft).

In der "Volksversicherung" AHV sind, so Colette Nova, "alle drin - also auch Kinder, Nichterwerbstätige, selbstständig Erwerbende und Staatsangestellte". Finanziert im Umlageverfahren, lägen die Beitragssätze für die AHV bei 8,4 und für die IV bei 1,4 Prozent des Bruttolohns, je zur Hälfte aufzubringen von Beschäftigten und Arbeitgebern. Nichterwerbstätige zahlen mindestens 480 und höchstens 24.000 Schweizer Franken pro Jahr, Selbstständige maximal 7,8 Prozent ihres Reineinkommens, also des Nettoeinkommens abzüglich von Ausgaben zum Beispiel für Krankheit oder gemeinnützige Spenden.

Familienarbeit hat konkreten Wert

Die Regelaltersgrenze für Männer beträgt 65, für Frauen 64 Jahre. Bei voller Beitragsdauer von 44 Jahren bei Männern und 43 Jahren bei Frauen liegt 2015 die Mindestrente bei 1.175, die Höchstrente bei 2.350 Franken pro Monat. Die Gesamtrente von Ehepaaren allerdings sei auf 150 Prozent dieser Höchstrente begrenzt, was Colette Nova "nicht sehr logisch" findet. Die maximale Witwenrente liegt derzeit bei 1.880, die höchste Waisenrente bei 940 Franken.

Erziehungs- und Betreuungsgutschriften ergänzen den grundsätzlich nach Beitragszeiten und durchschnittlichen Jahreseinkommen berechneten Rentenanspruch. So wird in der Schweiz die Familien- und Kinderarbeit während 16 Jahren mit jeweils etwa 35.000 Franken pro Jahr als fiktives Einkommen bewertet - "und das nützt vor allem den Frauen", sagt Colette Nova. Auch Studienzeiten würden prinzipiell angerechnet, aber dafür müssten die Studierenden auch Beiträge zahlen - im Schnitt 500 Franken pro Jahr.

Einen weiteren Solidarbaustein sieht Colette Nova in der Tatsache, dass es - anders als in Deutschland - für Erwerbseinkommen keine Beitragsbemessungsgrenze, sehr wohl aber eine Maximalrente gibt.

Ebenfalls in der Schweizer Verfassung verankert ist die betriebliche Altersvorsorge. Ein profunder Kenner dieser zweiten Säule ist Aldo Ferrari, Vizepräsident der Schweizer Gewerkschaft Unia, der als Arbeitnehmervertreter im Stiftungsrat der Vorsorgeeinrichtung "proparis" wirkt.

Ein Bundesgesetz verpflichtet die Arbeitgeber zu "obligatorischen Leistungen", doch sie werben auch gerne mit ihren "überobligatorischen". Wer 2015 mehr als 21.150 Franken verdient hat und AHV-pflichtig ist, erhält die obligatorischen Leistungen, sofern die Arbeitsbeziehung länger als drei Monate besteht. Altersleistungen sind ab dem 25. Lebensjahr, die Risiken von Invalidität und Tod ab dem 18. Lebensjahr verbindlich vom Arbeitgeber zu versichern.

Die Altersleistungen errechnen sich aus "Gutschriften", die Beschäftigte im Laufe ihres Erwerbslebens ansammeln. Diese Altersgutschriften summieren sich zu einer "Freizügigkeitsleistung" - ein individuelles Kapital, das vom obersten Organ der Vorsorgeeinrichtung zudem jährlich mit einem festen Zins vergütet wird, für 2015 mindestens mit den vom Schweizer Bundesrat garantierten 1,75 Prozent. Die Kassen können diesen Zinssatz selbst aber noch erhöhen.

Gutschriften fürs Alter

Für die individuell zu berechnende Altersrente gilt derzeit ein (Mindest-)Umwandlungssatz von 6,8 Prozent. Beträgt zum Beispiel das Sparkapital aus Freizügigkeitsleistung und Jahreszinsen 100.000 Franken, so erhält der oder die Versicherte im Rentenalter eine Jahresbetriebsrente von 100.000 mal 6,8 Prozent, also 6.800 Franken.

Im Jahre 2013 waren in der Schweiz mehr als 700 Milliarden Franken Kapital für die Betriebsrenten angesammelt, es wird im Gegensatz etwa zu den Niederlanden oder den USA stärker in Obligationen angelegt als in Aktien.

Ein bisschen Zwang muss schon sein

Der Gewerkschafts-Vize von Unia plädiert für eine Reform des ganzen Systems: Zum Beispiel dürfe es sich für die Arbeitgeber nicht länger lohnen, viele Teilzeitbeschäftigte anzustellen, um dadurch Versicherungsbeiträge zu sparen. Aldo Ferrari wirbt für "AHVplus", die Renteninitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB: höhere Renten, ein stabiler Umwandlungssatz und eine berufliche Vorsorge, die Angestellte nicht aufgrund ihres Alters oder Einkommens benachteiligt. Hinter der Initiative stehen neben dem SGB auch die Sozialdemokraten, die Grünen und Rentner/innen-Organisationen.

Auch in Deutschland plant die Bundesregierung unter dem Titel "Neues Sozialpartnermodell" eine Reform der Betriebsrenten. Judith Kerschbaumer, Leiterin des Bereichs Sozialpolitik in der ver.di-Bundesverwaltung, hat darüber am 27./28. Mai 2015 in Bern während eines vom ver.di-Bundestarifausschuss und vom Unterstützungs- und Vorsorgewerk für den Dienstleistungsbereich (u.di) organisierten Arbeitsbesuchs informiert. Judith Kerschbaumer sieht das Gesetzesvorhaben kritisch: Eine Enthaftung der Arbeitgeber komme für ver.di dabei nicht in Frage. Zweifellos müsse die betriebliche Altersvorsorge gestärkt werden - jedoch nicht zu Lasten der gesetzlichen Rente. Ohne "etwas Zwang" für die Arbeitgeber werde sich kaum etwas bewegen, eine Erklärung zur Allgemeinverbindlichkeit könne helfen.

Von Hermann Schmid