"Fragt weiter!"

Von Johanna Treblin

Selma van de Perre wollte nicht einschlafen. Sie hatte Angst, im Schlaf Dinge zu erzählen, die sie nicht erzählen durfte. Zum Beispiel, wie sie wirklich hieß, und dass sie Jüdin war. "Bist du mit deinen verschiedenen Namen manchmal durcheinandergekommen?" fragt Anne. "Nie", antwortet die Niederländerin. Ihr Durchhaltevermögen hat ihr vermutlich das Leben gerettet.

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sitzt die 93-Jährige in der Alten Reederei in Fürstenberg, unweit des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, und lässt sich von Jugendlichen beim gemeinsamen Abendbrot über ihr Leben ausfragen. Sie ist die älteste von drei Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, die an vier Tagen in diesem August am elften Generationenforum teilnehmen. In intensiven Begegnungen und Gesprächen beleuchten rund 40 Schüler und Studenten gemeinsam mit Zeitzeugen die früheren Geschehnisse an dem Ort, an dem unter der Nazi-Herrschaft zehntausende Menschen inhaftiert und umgebracht wurden.

Solange sie noch leben

Es ist der zweite von vier Forumstagen. Am Morgen haben sich die Teilnehmer schon in verschiedenen Themen-Workshops kennengelernt, nachmittags stand für die Jugendlichen ein Spaziergang von der Gedenkstätte durch den heutigen Ort Fürstenberg auf dem Programm. Jetzt, am frühen Abend, sind wieder alle Teilnehmer zusammen, um beim gemeinsamen Abendessen miteinander ins Gespräch zu kommen. Nicht allen Jugendlichen fällt das leicht. Manche stehen abwartend um die alten Damen herum, einer setzt sich auf einen der freien Stühle am Gartentisch und hört zu. Andere sind weniger zurückhaltend. Ein junger Mann bietet sich an, für die Damen Kuchen vom Buffet zu holen. Andere wollen Persönliches wissen oder stellen ganz praktische Fragen. Ob Selma - die Jugendlichen duzen die Frauen - selbst E-Mails lese und schreibe, oder ob ihr jemand dabei helfe? Natürlich schreibt sie selbst! Die Jugendlichen sind überrascht. "Meine Oma hat noch nie an einem Computer gesessen", sagt Anne.

Der entspannte Umgang ist besonders wichtig; alle Teilnehmer/innen sollen sich auf der Veranstaltung wohlfühlen und so viel wie möglich für sich mitnehmen. "Uns wurde von Anfang an gesagt, dass wir alles ansprechen können", erwähnt Peter. "Trotzdem: Man will ja nichts Dummes fragen." Der 16-Jährige ist Gewinner eines vom Bundespräsidenten jährlich ausgeschriebenen Geschichtswettbewerbs. Über das daraus entstandene Netzwerk wurde er auf das Generationenforum aufmerksam und bewarb sich.

"Vieles weiß man bereits aus dem Geschichtsunterricht", sagt Peter. "Aber hier erfährt man aus erster Hand, wie unmenschlich alles war." Ihn berühren vor allem die kleinen Geschichten, die die Zeitzeuginnen erzählen. Und ein Gedicht, das die Polin und Überlebende des Konzentrationslagers Batsheva Dagan am Morgen vorgetragen hatte: "An die, die zögern zu fragen." Darin fordert die Dichterin eindringlich dazu auf, Zeitzeugen zu befragen, solange sie noch am Leben sind.

Gelassen antworten die alten Damen auf alle Fragen – sie sind den Umgang mit Jugendlichen seit Jahren gewohnt. Batshava Dagan nimmt seit 2005 an der Begegnung teil. Auch Eva Bäckerová ist schon seit 2007 dabei. Nur für Selma van de Perre ist es das erste Generationenforum. Doch auch sie hat bereits Erfahrungen darin, mit jungen Menschen über den Holocaust zu sprechen.

Anfangs habe sie die Einladungen zu Treffen mit Schülern und Jugendlichen immer abgelehnt, sagt van de Perre. Sie sah keinen Sinn darin, über die Zeit ihrer Inhaftierung in Ravensbrück zu reden. Immer wieder wurde sie gefragt, immer wieder lehnte sie ab. Mitarbeiter der Gedenkstätte Ravensbrück luden sie 1995 ein, zum 50-jährigen Gedenken der Befreiung des Lagers nach Brandenburg zu kommen. Unvorstellbar für die Niederländerin: "Ich wollte keinen Fuß mehr nach Deutschland setzen." Aber dann besprach sie sich mit anderen Überlebenden aus ihrem Heimatland und reiste schließlich doch zusammen mit einer Gruppe an. In Ravensbrück konnte sie dann nachts nicht schlafen.

Jetzt, 20 Jahre später, schläft sie sogar ohne Probleme im ehemaligen Haus der Aufseherinnen. "Als wir gestern Abend alle zusammensaßen und Wein tranken, dachte ich an die Zeit vor über 70 Jahren zurück. Damals war alles grau, auch ich war grau. Aber jetzt ist es anders. Wir haben einen schönen Sommerabend verbracht."

Nach ihrer ersten Deutschlandreise erhielt van de Perre eine Anfrage aus den Niederlanden - sie lebte selbst in England -, mit angehenden Lehrern zu diskutieren. Das war das erste Mal, dass sie zusagte, nicht nur als Gast, sondern als Rednerin an einer Veranstaltung zum Holocaust teilzunehmen. "Kinder sind die Zukunft. Wenn wir nicht mehr da sind, dann können die Lehrer den Schülern erzählen, was wir ihnen erzählt haben. Ich hoffe, dass sie aus unseren Erfahrungen lernen werden."

Nie wieder Krieg

Auch für Jeanine Bochat ist die Arbeit mit Jugendlichen essentiell: "Die Jugendlichen tragen unsere Arbeit weiter." Bochat ist gemeinsam mit Vera Dehle-Thälmann Sprecherin der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V., ein Zusammenschluss von Überlebenden, deren Angehörigen und politischen Freunden, die das Vermächtnis der Opfer bewahren wollen. Die Lagergemeinschaft klärt über Krieg und Faschismus auf und tritt für Menschenrechte und Frieden ein. "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg", sagt Bochat.

Batsheva Dagan (li.) kommt seit 2005 immer wieder nach Ravensbrück

Der Verein setzt sich zudem für den Erhalt der Mahn- und Gedenkstätte ein, kümmert sich um die Überlebenden und trägt zur Gestaltung der jährlichen Befreiungsfeiern bei. Darüber hinaus pflegt er das Gedenken an die Befreier des Konzentrationslagers am sowjetischen Ehrenmal in Fürstenberg. Im Frühjahr dieses Jahres - zum 70. Jahrestag der Befreiung - hat er die "Straße des Erinnerns" initiiert: Überlebende zeichneten gemeinsam mit Jugendlichen aus Berlin den Weg der Häftlinge vom Bahnhof Fürstenberg ins Lager mit Schablonen und Farbe nach. In den vergangenen Jahren hat sich die Lagergemeinschaft auch immer wieder am Generationenforum beteiligt.

Durch die Auseinandersetzung mit dem Faschismus sollen die Jugendlichen lernen, "wie schnell so etwas passieren kann". Gerade heute, wo Ausländerfeindlichkeit verstärkt offen gezeigt wird. Wenn jemand etwa mit der bekannten Formel komme, "Asylanten nehmen uns unsere Arbeit weg", dann brauche es Menschen, die sich dagegenstellen und sagen: "Nein, das stimmt nicht", wünscht sich Bochat. Aufklärung und stark machen, sich trauen, den Mund aufzumachen, auch das will die Lagergemeinschaft mit ihrer Arbeit erreichen.

Um besser nachvollziehbar zu machen, was ihr und Tausenden anderen widerfahren ist, fährt Selma van de Perre mittlerweile seit zehn Jahren regelmäßig mit angehenden Lehrern aus den Niederlanden nach Ravensbrück. Für 2015 hatte sie zum ersten Mal zugesagt, auch mit Jugendlichen zu diskutieren. "Ich bin eine der letzten Überlebenden. Bald werden die jungen Menschen keine Gelegenheit mehr haben, mit Zeitzeugen zu sprechen. Ich merke aber, wie groß das Interesse ist."

Und auch van de Perre nimmt meist etwas mit von diesen Zusammentreffen: "Ich wundere mich immer wieder, wie mich die Fragen der Jugendlichen selbst zum Nachdenken bringen", sagt sie wie zu sich selbst. "Deshalb sind Fragen so wichtig", stellt sie dann fest und fordert die jungen Leute um sich herum auf: "Fragt weiter!"


Das Konzentrationslager Ravensbrück

wurde im Januar 1939 errichtet, zunächst für rund 3.000 Frauen. Zunehmend kamen Häftlinge aus den von den Deutschen besetzten Gebieten hinzu, das Lager wurde ständig vergrößert. In SS-Betrieben mussten die Frauen Uniformen herstellen, später arbeiteten sie auch für die Firma Siemens & Halke.

1941 wurde zusätzlich ein Lager für Männer errichtet. 1944, nach dem Warschauer Aufstand, brachten die Nazis rund 12.000 polnische Frauen und Kinder nach Ravensbrück. Ende 1944 waren im größten Frauenkonzentrationslager 45.000 Menschen eingesperrt. Vor dem Kriegsende wurden 5.000 bis 6.000 Menschen in den Gaskammern ermordet, die meisten Häftlinge trieb die SS auf einen Todesmarsch. Am 27. April 1945 befreite die Rote Armee das Lager und mit ihm rund 2.000 zurückgelassene kranke Menschen.

Insgesamt sollen mehr als 150.000 Häftlinge das Lager passiert haben. Viele wurden von dort in Außenlager der Rüstungsfirmen deportiert, andere nach Auschwitz. In Ravensbrück selbst kamen ca. 28.000 Menschen ums Leben; sie wurden erschossen, starben an Erschöpfung, Hunger und Krankheiten.

Lagergemeinschaft/Freundeskreis e.V.: www.lg-ravensbrueck.vvn-bda.de