Ausgabe 01/2017
Ungleichheit ist kein Naturereignis
Die Politik muss entgegenwirken
Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik beim ver.di- Bundesvorstand
Deutschland ist ein ungleiches Land. Seit einem Vierteljahrhundert öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Die soziale Gerechtigkeit ist unter die Räder gekommen. Während Winterkorn, Ackermann & Co millionenschwere leistungslose Einkommen kassieren, tragen Krankenschwestern, Altenpfleger und Postboten große Verantwortung für wenig Geld. Für das Jahresgehalt eines DAX-Vorstands muss ein einfacher Beschäftigter im Schnitt 57 Jahre arbeiten.
Das große Einkommensgefälle ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Die erste Runde der Einkommensverteilung - die sogenannte Primärverteilung - ging in den letzten Jahrzehnten fast immer an die Unternehmer und Vermögensbesitzer. Während Löhne und Gehälter nicht vom Fleck kamen, setzten Gewinne und Vermögenseinkommen Fett an. Die Lohnquote - der Anteil der Löhne am Volkseinkommen - sank, und die Bruttoeinkommen verteilten sich immer ungleicher. Diese eklatante Schieflage konnte in der zweiten Verteilungsrunde durch Steuern und Transfers nicht mehr angemessen korrigiert werden. Folglich nahm die Ungleichheit nach Umverteilung zu.
Die Nettoeinkommen der reichsten zehn Prozent stiegen zwischen 1991 und 2014 preisbereinigt um 27 Prozent. Gleichzeitig sanken die Einkommen des ärmsten Zehntels um acht Prozent. Die Mitte der Gesellschaft musste ebenfalls Einkommensverluste hinnehmen. Die Einkommen der unteren 40 Prozent schrumpften. Zwangsläufig konzentrierte sich immer mehr Einkommen in wenigen Händen. Die reichsten zehn Prozent besitzen heute fast ein Viertel des gesamten Einkommenskuchens. Das Kuchenstück der ärmsten 20 Prozent umfasst hingegen nicht einmal ein Zehntel.
Noch dramatischer ist die Lage bei den Vermögen. Aktien, Anleihen und Immobilien sind ungleicher verteilt als Einkommen. Das reichste Prozent besitzt heute ein Drittel des gesamten privaten Nettovermögens. Das reichste Zehntel verfügt über zwei Drittel. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung geht hingegen fast leer aus.
In der neoliberalen Märchenwelt ist die wachsende Ungleichheit ein zwangsläufiges Ergebnis des wirtschaftlichen Wandels. Der technische Fortschritt und die Globalisierung führen angeblich zu einer steigenden Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften. Folglich klettern deren Einkommen. Gleichzeitig finden gering Qualifizierte kaum noch Arbeit, weswegen ihre Löhne schrumpfen. Diese vermeintlich einleuchtende Erklärung besteht aber keinen Praxistest. Während in allen Industrieländern der Sturm der Globalisierung und Digitalisierung wütet, entwickelt sich die Verteilung unterschiedlich.
Unbestritten hat die erweiterte internationale Arbeitsteilung die Verhandlungsmacht der Kapitaleigentümer und des Managements gestärkt. Die Herrschaft der Finanzmärkte verschärfte die Umverteilung von Unten nach Oben. Unbestritten ist auch der massive Umbau der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter. Die Auswirkungen dieses ökonomischen Strukturwandels auf die Einkommens- und Vermögensverteilung sind aber immer abhängig von seiner politischen Gestaltung.
Politik macht den Unterschied. Im Mittelpunkt steht dabei der Arbeitsmarkt. Die wachsende Ungleichheit geht im Kern auf die politische Entwertung und Entgrenzung der Arbeit zurück. Armutslöhne und prekäre Beschäftigung schwächten die Gewerkschaften. Die Tarifflucht vieler Unternehmen tat ein Übriges. Heute verhandeln ver.di, IG Metall und Co. nur noch für drei von fünf Beschäftigten. Und der neoliberale Ab- und Umbau des Sozialstaates - Leistungskürzungen bei Arbeitslosigkeit, Rente und Gesundheit sowie eine umfangreiche steuerpolitische Reichtumspflege - ist dafür verantwortlich, dass die stark wachsende Ungleichheit der Markteinkommen nicht mehr verteilungspolitisch gebremst werden konnte. Damit muss Schluss sein.
Das beste Rezept gegen Ungleichheit sind starke Gewerkschaften und ein gutes Regelwerk auf dem Arbeitsmarkt. Deswegen muss zunächst das Tarifsystem gestärkt, prekäre durch gute Arbeit ersetzt, der Mindestlohn erhöht, die Hartz-Gesetze müssen korrigiert und die Mitbestimmung muss ausgebaut werden. Darüber hinaus muss unser Sozialstaat wieder für mehr Steuergerechtigkeit sorgen. Große Einkommen und Vermögen müssen stärker besteuert werden. Dafür brauchen wir einen höheren Spitzensteuersatz, eine Vermögenssteuer sowie eine höhere Besteuerung großer Erbschaften und Unternehmensgewinne. Die kommenden Bundestagswahlen werden darüber entscheiden, ob sich die soziale Spaltung fortsetzt. Mehr soziale Gerechtigkeit erfordert mehr gewerkschaftliche und politische Gegenmacht.
Für das Jahresgehalt eines DAX-Vorstands muss ein einfacher Beschäftigter im Schnitt 57 Jahre arbeiten