Über 70 ist die Penny-Kassiererin garantiert schon, die in einer Berliner Filiale des Discounters gerade Spätschicht hat. Ob sie mit einem Aushilfsjob die Rente aufbessern muss wie so viele langjährig im Einzelhandel arbeitende Frauen, lässt sich unter den hektischen Bedingungen an diesem Abend nicht mehr klären.

Was viele Kunden nicht wissen: Niedrige Einkommen und andere hohe Risiken für Altersarmut sind im Handel so verbreitet wie kaum sonstwo. Gerade in einer Branche, in der kein größerer Player mehr ohne blumige Fairnessversprechen im Firmenleitbild auskommt, sieht die Realität oft brutal anders aus. Die Bundesregierung geht davon aus, dass allein im Einzelhandel mehr als ein Drittel der rund drei Millionen Beschäftigten Niedriglöhne bezieht.

"Mit höchstens 300 Euro Rente kann niemand existieren", sagt Angela Gantke, Betriebsratsvorsitzende im Kulmbacher SB-Warenhaus Real, zu der für viele skandalös geringen Altersversorgung. "Unfreiwillige Teilzeit, niedrige Stundenzahlen und Befristungen haben selbst in tarifgebundenen Unternehmen zugenommen." Als Vorstandsmitglied der ver.di-Bundesfachgruppe engagiert sie sich gegen prekäre Beschäftigung und Tarifflucht. Denn die Lage hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten zugespitzt: Einzel- und Versandhandel sowie Groß- und Außenhandel sind heute nur noch zu 30 Prozent tarifgebunden.

Tarifflucht muss ein Ende haben

Anfang März begann in Düsseldorf mit dem Auftakt für die Entgeltrunde 2017 auch die bundesweite Kampagne "Einer für alle - Tarifverträge, die für alle gelten". Der ver.di-Fachbereich Handel will damit den Unterbietungswettbewerb bei Löhnen und Gehältern öffentlich machen und letztlich stoppen. "Tarifflucht darf sich nicht auszahlen", so ver.di-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger zur zentralen Forderung an Arbeitgeber und Politik, "endlich wieder allgemeinverbindliche Tarifverträge möglich zu machen". Das Schlüsselwort heißt AVE - Allgemeinverbindlichkeitserklärung: Tarifabschlüsse sollen ausnahmslos für alle Beschäftigten gelten. Auch in solchen Unternehmen, die noch nie tarifgebunden waren. Von A wie Amazon bis Z wie Zalando.

Konkurrenz als Vernichtungswettbewerb

Im Handel vollzieht sich die Konkurrenz als Vernichtungswettbewerb, der durch die Digitalisierung noch beschleunigt wird. Die Nachfragemacht, Preiskriege und Rabattschlachten prägen das Geschehen ebenso wie der Druck auf die Personalkosten. Auch die Expansion der Verkaufsflächen und Öffnungszeiten werden als Waffen eingesetzt, da kleine und mittelständische Geschäfte oft aus Kostengründen nicht mithalten können. Viele Mitbewerber sind schon auf der Strecke geblieben oder wurden übernommen. Und wenn immer wieder selbst große Händler für Negativschlagzeilen sorgen, so ist das nie allein auf Managementfehler zurückzuführen.

"Hier Stoppzeichen zu setzen und mit verbindlichen Tarifverträgen für bessere Existenzsicherung im Erwerbsleben und im Alter zu sorgen, das ist das Anliegen unserer Kampagne", sagt Orhan Akman, tarifpolitischer Koordinator für ver.di im Einzelhandel.

Dass ein dickes Brett gebohrt werden muss, bevor das Ziel in Sichtweite kommt, ist allen Beteiligten klar. "Dumpinglöhne spielen im Einzelhandel keine Rolle", mit dieser Behauptung stellt sich zum Beispiel der Unternehmerverband HDE blind und lehnt es ab, alle Firmen auf das Tarifniveau zu verpflichten. Seit er eine Verbandsmitgliedschaft "ohne Tarifbindung" eingeführt hat, wächst der Niedriglohnsektor.

Mit vielen Bündnispartnern will ver.di deshalb in der Kampagne öffentlichen Druck machen. Bei Betriebsversammlungen wird es auch um Mobilisierung gehen. Politiker will ver.di auffordern, einen "Kontrakt für die Zukunft der Beschäftigten" einzugehen. Mit dieser Selbstverpflichtung positionieren sie sich gegen drohende Altersarmut im Handel, für allgemeinverbindliche Tarifverträge und gegen den ruinösen Wettbewerb. Vor allem unterstreichen sie, dass gravierende Probleme angepackt werden müssen, die Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft haben.