In Marseille bereiteten die Schulzes (vorne links und rechts) einen Streikwagen der CGT mit vor

Jügesheim ist ein Ortsteil von Rodgau, dessen bekannteste Söhne schon 1984 sangen: "Erbarmen - zu spät - die Hesse komme!" Und die Hessen kommen wirklich, aber diesmal gleich europaweit und in Übersee. Heike Schulze (54) ist Verwaltungsangestellte und ver.di-Gewerkschafterin mit Leidenschaft. Sie meint es ernst mit der internationalen Solidarität der Arbeitnehmer / innen im weltweit vernetzten Kapital- und Arbeitsmarkt. Und sie ist sicher, dass alle dazu beitragen können, die eine Reise tun.

Das erste Mal setzte sie ihre Idee im April 2016 während eines Urlaubs zusammen mit ihrem Mann, dem IG Metaller Wolfgang Schulze (54), in Marseille, um: "Einfach nach der Adresse fragen, anrufen und hingehen!" In ihrem Hotel erfuhr sie, dass das Büro der Confédération générale du travail (CGT), des französischen Gewerkschaftsbundes, gerade mal um die Ecke sei: "Wir haben Solidaritätsgrüße aus Deutschland überbracht." Die kamen wie gerufen, denn die Kolleg / innen bereiteten gerade ein Streikwagen vor. Aus den Grüßen wurde Teilnahme. Einen Tag später, beim Generalstreik, hatten sie die Streikwesten an, liefen mit und fuhren auf dem Wagen. Fazit: "Wir haben offene Türen eingerannt." Und dazu gelernt. In Frankreich seien Demonstrationen nicht so durchorganisiert wie in Deutschland, dafür aber sei die spontane Beteiligung viel größer: "Die Leute auf der Straße sehen das und gehen einfach mit."

Kleine ver.di-Geschenke reisen mit

Und wie kommt man auf so was? Heike Schulze wuschelt ihr blondes Haar. Eigentlich, meint sie, weiß sie das gar nicht so genau. Gewerkschafterin sei sie schon als junge Frau geworden: "Weil mein Vater mir das gesagt hat. Das gehörte einfach zum Leben." In ihrer Familie sei das gar nicht anders vorstellbar gewesen. Als Mitglied des ver.di-Bezirksvorstandes Frankfurt und Region habe sie Delegationsreisen und das Entstehen von internationalen Solidaritätsnetzwerken schon immer als wichtig und richtig empfunden. Und sich dann gedacht: "Das können wir als einzelne doch auch machen."

Den nächsten Besuch haben die Schulzes dann der österreichischen Gewerkschaft während eines Urlaubs in Kärnten, seinerzeit "einem richtigem Haider-Land", abgestattet. Diesmal hatten sie sich die Adresse schon zu Hause herausgesucht und sich im Voraus mit einer E-Mail beim Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) in der Kreisstadt Hermagor angekündigt. Sie überreichten dort kleine ver.di-Geschenke, Sticker, Tassen, Kugelschreiber.

In dem langen Gespräch ging es "vor allem um den Rechtsruck in Österreich, um die Grundsicherung und den Vergleich von Renten- und Sozialhilfesysteme". Gelernt haben sie: "Die Renten dort sind besser." Und dass die deutschen Gewerkschaften dem Thema Rente noch mehr Aufmerksamkeit widmen sollten: "Das ist unglaublich wichtig, nicht nur wegen des Geldes." Viele Menschen seien im Alter nicht nur arm, sondern auch einsam.

Unter ganz normalen Leuten

Der Höhepunkt ihrer bisherigen Besuchsserie aber sei der Dezember 2017 gewesen. Monika Schulze reiste mit ihrem Mann und Tochter Susanne nach Rio de Janeiro in Brasilien. Der Kontakt war schon 2009 über einen Austauschschüler zustande gekommen, den sie aufgenommen hatten, weil er sich in seiner bisherigen Gastfamilie nicht wohlgefühlt hatte. Eigentlich habe er auch bei ihnen nicht so ganz gepasst, denn die Tochter lernte Spanisch, nicht Portugiesisch. Und außerdem wäre ihnen ein Mädchen lieber gewesen: "Aber dann war es Liebe auf den ersten Blick." Für diese Reise haben sie "lange gespart". Durch die Freundschaft konnten sie in einem Appartement der Familie "unter ganz normalen Leuten" wohnen. Aber: "Die Sprachschwierigkeiten waren enorm."

Im Internet suchten sie diesmal nach "Sindicado" und kamen auf die brasilianische kommunale Gewerkschaft der Arbeiter der IT-Branche im öffentlichen Dienst: "Wir sind da unangekündigt einfach hingegangen." In dem Gebäude hätten sie sich zunächst nicht zurechtgefunden und seien deshalb zuerst für Touristen gehalten worden, die sich einfach verirrt hätten. Als der Irrtum, mit Händen und Füßen und Übersetzungsprogramm im Smartphone, aufgeklärt gewesen sei, sei "das Hallo groß" gewesen. Schulzes überreichten einen Kalender für 2018 vom hessischen ver.di-Fototeam und ein "Respekt"-Schild. Die brasilianischen Kolleg / innen hätten sich viel Zeit für die deutschen Überraschungsgäste genommen und den Besuch für ihre eigenen Medien festgehalten.

Zum Nachahmen empfohlen

Aufgefallen sei ihnen, wie gut informiert die Kolleg/innen über die politischen Verhältnisse in ihrem von Korruption und Krisen gebeutelten Land seien und wie sehr sie sich mit ihren Aktionen an der Tagespolitik orientierten: "Die sind immer top-informiert über die neuesten Entwicklungen." Gewerkschaftssekretär Lelio Stemback gewährte ihnen Einblick in den alltäglichen, in Brasilien nicht ungefährlichen Kampf um existentielle Rechte der Arbeitnehmer, um Renten, Sozialleistungen und Krankenversorgung: "Er postet jeden Tag gegen die Regierung."

Zum brasilianischen Programm gehörte auch der Besuch in einer Favella, einem der Armenviertel der Stadt. Rund um das 2004 eröffnete erste Favella-Hotel der Welt, "Hostel Pousada Favelinha", mit spektakulärem Blick über die Stadt fühlte Heike Schulze sich sicher, obwohl das Haus nur durch einen längeren Fußmarsch quer durch das Viertel bergauf über viele Stufen zu erreichen und die Kriminalitätsrate auf den Straßen sehr hoch ist. Sie lernten Menschen kennen, die dort leben, arbeiten und ihre Produkte verkaufen. Auch in der Armut sei Brasilien, findet Heike Schulze, "ein wunderschönes Land" "Und", sagt sie: "ich möchte da wieder hin."

Die Resonanz daheim und beim ver.di-Kreisverband sei bislang immer sehr positiv gewesen, "gute Außenwerbung" hieß es da. Heike Schulze fände es gut, wenn ihre Idee einen Nachahmungseffekt hätte - Besuche nicht nur auf offizieller Ebene gemacht würden, sondern eben ganz privat von Mitglied zu Mitglied. Insgesamt, so ihr Fazit, seien die Gewerkschaften vor allem in Frankreich und in Brasilien in ihrem Arbeitskampf sehr viel "offensiver und auch aggressiver", als sie das aus Deutschland gewohnt sei.

Der nächste Urlaub im Sommer 2018 wird sie erst einmal wieder nach Marseille führen nebst Gewerkschaftsbesuch und Wiedersehen mit den CGT-Kolleginnen und -Kollegen. Und dann geht's wahrscheinlich nach Portugal.