Werner Rügemer ist freier Autor und Publizist

In Deutschland herrscht Wohnungsnotstand. 60 Prozent des Monatseinkommens für Miete und Nebenkosten, Zwangsräumung wegen nicht mehr bezahlbarer Miete – es trifft vor allem die Niedriglöhner. 600 Euro für eine Studentenbude – keine Seltenheit mehr. Arbeitslose müssen einen Teil ihrer kümmerlichen 416-Euro-Monatszahlung abknapsen und zur Miete drauflegen, weil die Mietobergrenze des Jobcenters überschritten ist und keine Wohnungen mehr vorhanden sind, die noch unter der Obergrenze liegen. Da wird zwangsgehungert. Bei einer 100 Prozent-Sanktion durch das Jobcenter ist auch die Wohnung weg. 420.000 Menschen hatten schon 2016 keine eigene Wohnung mehr, galten als Wohnungslose – die 440.000 Flüchtlinge nicht eingerechnet. Über 50.000 Menschen „wohnen“ auf der Straße, langsames Dahinsterben eingeschlossen. Wieviel Betroffene es heute genau sind – die Regierung will es nicht wissen.

Die Mietpreisbremse der vorigen Bundesregierung war wirkungslos. Dann hatte die neue Regierung die tolle Idee mit dem Baukindergeld: Wer eine neue Wohnung bauen lässt oder kauft, bekommt pro Kind noch 12.000 Euro dazu. Doch es stellte sich heraus: Es wird nichts Neues gebaut, sondern Bestehendes gekauft. Und das können dann die Besser- und Doppelverdiener, die einen Kredit für die 450.000 Euro teure Eigentumswohnung überhaupt kriegen – das Baukindergeld als netter Mitnahmeeffekt für die fünf Prozent der gehobenen Mittelschicht.

Und die Reform der Grundsteuer steht an. Das Bundesverfassungsgericht hat letztes Jahr endlich geurteilt: Die Grundsteuer ist verfassungswidrig. Der Bemessungswert stammt aus den Jahren 1935 und 1964. Seitdem haben sich vor allem in Städten und Stadtzentren die Werte von Wohnungen und Grundstücken vervielfacht. Doch die Regierungsparteien wollen das Urteil unterlaufen: Die SPD mit Finanzminister Scholz will zwar Grundstückswert, Miethöhe und Wohnfläche einbeziehen. Dann aber sollen die Kommunen, zu deren Steuereinnahmen die Grundsteuer gehört, den Hebesatz so niedrig ansetzen, dass der tatsächliche Grundsteuerbetrag nicht steigt. Sodass bundesweit jährlich 14 Milliarden Euro erhoben werden – wie bisher. CDU und CSU, die angeblichen Verfechter der Marktwirtschaft und des Rechtsstaats, sind noch frecher: Den Marktwert der Wohnungen zu berechnen, sei viel zu kompliziert und teuer. Das machen wir nicht, zetern sie, Verfassungsgericht hin oder her.

Das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat ermittelt: Zu den Mietpreistreibern und Wohnungsverknappern gehört Airbnb. Der digitale Weltkonzern vermittelt Hotelzimmer, aber auch immer mehr Zimmer in Mietwohnungen.

In Berlin vermittelt Airbnb Touristenzimmer in etwa 10.000 Mietwohnungen – für 50 bis 100 Euro pro Nacht. In München und Hamburg betrifft das jeweils etwa 5.000 Wohnungen. Dafür vertreiben Wohnungseigentümer lieber die bisherigen Mieter oder erhöhen die Normalmiete. Und nebenbei leistet Airbnb, so das ZEW, noch Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Airbnb meldet die Wohnungseigentümer nicht den zuständigen Behörden. Allein durch die Praktiken in den genannten drei Städten gehen der öffentlichen Hand pro Jahr etwa 200 Millionen Euro verloren. Dafür könnten die Kommunen Grundstücke kaufen und Sozialwohnungen bauen. Aber nix da – auf eine Anfrage der Linken im Bundestag antwortete die Bundesregierung im Oktober 2018: Wir haben mit Airbnb nicht über die Weitergabe von Steuerdaten gesprochen, und wir haben das auch in Zukunft nicht vor.

In kaum einem Industrieland verhätscheln Regierungen die Grundbesitzer so wie in Deutschland. Deshalb glauben CDU und CSU, Bundeskanzlerin Merkel und Wohnungsminister Seehofer, es sich leisten zu können und frech das Urteil des höchsten Gerichts beiseite zu schieben. Rechtsstaat? Sozialstaat? Würde des Menschen? Wohnen als Menschenrecht? Da müssen andere ran. Und andere Maßnahmen sind schon ernsthaft und breit in der Debatte: Grundsteuer nach Marktwert erheben. Verbieten, dass die Wohnungseigentümer die Grundsteuer wie bisher auf die Mieter überwälzen können. Der Staat muss privatisierte Wohnungen zurückkaufen – die Ankündigung des Berliner Senats, 51.000 Wohnungen zurückzukaufen, sind immerhin ein Signal. Und auch die nach dem Grundgesetz mögliche Enteignung preistreibender Wohnungskonzerne muss endlich aus der Tabu-Zone herausgeholt werden. Der Notstand verträgt kein „Weiter so“!

Auch die mögliche Enteignung preistreibender Wohnungskonzerne muss endlich aus der Tabu-Zone herausgeholt werden