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Foto: Petra Stockhausen/ullsteinbild-Westend61x

Viele Politiker sehen das Hauptproblem bei der Digitalisierung darin, dass es mit Glasfaserkabeln und dem Mobilfunknetz G5 zu langsam vorangeht. Wie unter einer Lupe hat die Corona-Krise nun gesellschaftliche Aspekte ins grelle Licht gerückt. Dazu gehört die digitale Spaltung der Gesellschaft, die in den Schulen beginnt und sich bei den Erwachsenen fortsetzt. Ungleichheiten zwischen sozialen Schichten, Altersgruppen und Geschlechtern haben sich verschärft. Zugleich dämmert inzwischen vielen, wie gefährlich die Abhängigkeit der öffentlichen Verwaltung von Großkonzernen aus dem Silicon Valley ist. "In diesen Monaten entscheidet sich vieles. Es steht auf Messers Schneide," sagt ver.di-Digitalexpertin Annette Mühlberg.

Das Internet nutzen zu können und sich darin selbstbestimmt und sicher zu bewegen, ist heute eine der Grundvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe. Etwa vier Milliarden Menschen weltweit haben aber keinen www-Zugang. In Deutschland sind etwa 14 Prozent komplett offline. Doch auch ein Smartphone zu besitzen, bedeutet noch lange nicht, gut damit umgehen zu können.

Digitales Lernen oft nicht möglich

In den Schulen offenbart der Lockdown die Probleme. Seit Monaten ist Kindern und Jugendlichen der Zugang zum Klassenzimmer versperrt. Besonders gravierend wirkt sich das auf die sowieso schon Benachteiligten aus. Nicht jedes Kind hat Eltern, die bei den Hausaufgaben helfen können. Auch hat längst nicht jedes Kind einen ruhigen Platz zum Lernen. In bildungsfernen Haushalten fehlt zudem überdurchschnittlich oft der Zugang zu einem Computer. Und weil die Stadtbibliotheken ebenfalls monatelang geschlossen waren, fielen sie als Ausweichort aus.

Vor dreieinhalb Jahren haben die Kultusminister eine Strategie zur "Bildung in der digitalen Welt" verabschiedet. Doch bis zum Ausbruch der Pandemie verfügte gerade einmal ein Drittel der Schulen über Klassensätze an Laptops oder Tablets; WLAN gibt es fast nirgends. In der aktuellen Krise machte die Regierung nun 500 Millionen Euro locker, damit bald 1,4 Millionen Geräte an bedürftige Schüler*innen ausgeliehen werden können.

Allerdings geht es um viel mehr als den Zugang zu Gerätschaften. Bei der internationalen ICLIS-Studie, eine Art Pisa-Test für den Umgang mit digitalen Medien, schneiden deutsche Achtklässler*innen nur mäßig ab. Erschreckender noch: Etwa ein Drittel der Jungen und Mädchen gilt als digitale Analphabeten – und das, obwohl sie oft viel Zeit mit ihrem Smartphone verbringen oder am PC rumdaddeln. Doch sind sie nicht in der Lage, Fakten von Fakes zu unterscheiden und nehmen alles ernst, was auf Plattformen wie Facebook und YouTube steht.

Dänemark hatte 2013 ein ähnlich schlechtes Niveau wie Deutschland – und erreicht nun einen Spitzenplatz. Das liegt nicht nur an der Ausstattung aller Schulen mit WLAN. Mindestens so entscheidend sind die gute Aus- und Fortbildung der Pädagog*innen. In Deutschland dagegen verlassen angehende Referendar*innen die Universitäten ohne eine Ahnung, wie sie digitale Geräte didaktisch sinnvoll einsetzen oder Kindern Medienkompetenz vermitteln können. Ebenso mangelt es an IT-Fortbildungen für Lehrer*innen. Viele teure Whiteboards, also digitale Tafeln, in den Schulen werden nicht genutzt, weil niemand damit umgehen kann. Bei den Weiterbildungsträgern setzt sich das Problem in noch verschärfterer Form fort: Der Staat hilft weder bei der digitalen Ausstattung noch bei der Qualifikation der Dozent*innen.

Der Datenschutz bleibt auf der Strecke

Ausgerechnet die Datenkrake Google bot sich bereits im März als Helfer in der Not an und offerierte Lehrern, Eltern und Schulen Hilfen für den digitalen Unterricht. "Das ist heller Wahnsinn, was da zum Teil passiert", so Annette Mühlberg. Als Alternative verweist sie auf die zahlreichen Bürgerrechts-Initiativen, die seit vielen Jahren Open-Source, also freie Software entwickeln, die jeder kundige Mensch kontrollieren kann. ver.di hat eine Liste mit brauchbaren, nicht profitorientierten und datenschutzfreundlichen online-Tools für alle veröffentlicht: t1p.de/verdigutetools

Neben den Schüler*innen wurden durch den Lockdown zudem Millionen Beschäftigte zum Arbeiten in die eigene Wohnung katapultiert – allerdings ohne die arbeitsschutzrechtlichen Voraussetzungen, die sonst beim Arbeiten im Homeoffice vorgeschrieben sind. Vor Corona arbeiteten nur zwölf Prozent der Beschäftigten ab und zu von zu Hause aus. Nun durchlaufen viele Abteilungen einen zum Teil chaotischen und rasanten Lernprozess in puncto Digitalisierung. Nicht wenige nutzten dabei Zoom oder Skype, um den Arbeitsalltag zu organisieren. Was vielfach auf der Strecke bleibt, ist der Schutz von Daten und Privatsphäre.

Für Beschäftigte in den öffentlichen Verwaltungen ist Digitalisierung seit Jahren ein Thema: Das Onlinezugangsgesetz (OZG) verlangt, dass Bürger*innen ab 2022 sämtliche Verwaltungsleistungen übers Internet erhalten können. Doch offensichtlich überlassen die Verantwortlichen das Thema mal wieder vor allem Technikern. Eine Umfrage aus dem vergangenen Herbst belegt, dass etwa die Hälfte der Beschäftigten gar nicht weiß, was konkret auf ihre Kommune zukommt. Zugleich äußerten viele den Wunsch nach mehr Transparenz und Open-Source-Software.

Gegenwärtig sind die deutschen Verwaltungen zu 96 Prozent von Microsoft-Produkten abhängig, so eine Untersuchung des Beratungsunternehmens PwC. Das bedeutet nicht nur, dass der Quellcode der Programme unzugänglich und damit nicht veränderbar ist. Besonders heikel: Das System überträgt Metadaten auf Microsoft-Server, und niemand kann ausschließen, dass dabei auch personenbezogene Informationen abfließen.

Wie es anders geht, zeigt das Städtchen Schwäbisch Hall, das in seiner Verwaltung konsequent auf freie Software vom PC bis zum Server setzt und dabei auch noch die Lizenzgebühren spart. Auch die CDU hat inzwischen verstanden, wie problematisch die Abhängigkeit von den US-Konzernen ist: Ein Parteitagsbeschluss vom November fordert, dass staatliche Stellen nur noch Open-Source-Produkte bestellen oder in Auftrag geben sollen.

Digitalisierung gestalten

Technische Entwicklungen sind keine Naturgewalten. China optimiert seine Systeme für eine staatliche Totalkontrolle. Die US-Konzerne Google, Microsoft, Apple und Amazon nutzen Digitalisierung als Geldvermehrungsmaschine und haben dafür einen Überwachungskapitalismus geschaffen. Arbeitsverdichtung und -druck nehmen zu, viele Menschen werden abgehängt. Doch Digitalisierung lässt sich auch zum Wohle aller gestalten, kann mehr Mitbestimmung und Demokratie ermöglichen, ein Werkzeug für geteiltes Wissen sein, Arbeitsbedingungen verbessern, die Innenstädte vom Verkehr entlasten. ver.di fordert eine solche Ausrichtung seit langem.

In den kommenden Monaten werden in der EU riesige Konjunkturpakete geschnürt. Sie bieten die einmalige Chance, dass Europa jetzt einen eigenen, gemeinwohlorientierten Weg bei der Digitali- sierung einschlägt.

Schwerpunkt Homeoffice

Seiten D4–D5

Fatal digital

Corona hat uns unfreiwillig digitalisiert. Kinder und Jugendliche wurden ins Homeschooling verbannt und dort oft völlig überfordert allein gelassen – nicht nur was die technische Ausstattung angeht. Millionen Beschäftigte mussten ins Homeoffice zwangsumziehen – egal, ob zu Hause genug Raum zum Arbeiten war. Selbst wenn sich eine stille Ecke fand, war man dort oft nicht lange ungestört. Zu betreuende Kinder wurden vom Schatz schnell zum BurnOut- Faktor. Schule, Arbeit, Freunde, Sport – alles musste plötzlich digital vonstatten gehen. Datenschutz wurde in der Not vielerorts vernachlässigt. Auch ohne Not (siehe Seite D3). Vielleicht ist bald alles wieder normal. Aber was ist normal nach Corona? Müssen wir vielleicht für immer ins Homeoffice? Auf den Seite D4-D5 mehr dazu. Fanny Schmolke