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Ein Viertel der Beschäftigten im Homeoffice leidet unter Stress. Arbeit, Familie und Freizeit Zuhause zu vereinbaren, bleibt schwierigFoto: Karsten Thielker

Jeder Mensch sehnt sich nach der Post- Corona-Zeit, in der wir wie gehabt ohne Schutzmaske Freunde treffen, in den Urlaub fahren und zum Arbeitsplatz zurückkehren werden. Letzteres ist allerdings alles andere als sicher.

Zurzeit läuft in deutschen wie internationalen Medien eine Kampagne von Zukunftsforschern und Arbeitsexperten, die uns überzeugen soll: Nach der Krise wird nicht wie vor der Krise sein. Allen Schäden zum Trotz sei die Pandemie Anlass eines willkommenen "Sozialexperiments" gewesen. Sie habe binnen zwei Monaten einen Digitalisierungsschub bewirkt, der sonst zehn Jahre gebraucht hätte. Nun soll für möglichst viele der Ausnahmezustand zur neuen Normalität werden. Sie heißt auf gut Deutsch Homeoffice (auf Englisch bedeutet das Wort "Innenministerium"), beinhaltet aber viel mehr. Dahinter steckt eine grundlegende Transformation der Arbeitswelt.

Seit Jahren werben Unternehmensberater für das Modell: Belegschaften werden zu vernetzten Teams, die hierarchiefreier und selbständiger kooperieren. "Führen auf Distanz" sei die Zauberformel zur Produktivitätssteigerung – und nebenbei bewirke es günstige Kosteneffekte: Nicht nur können dadurch Bürokapazitäten abgebaut, sondern auch das mittlere Management deutlich verringert werden. Dennoch zögerten die Führungskräfte. Bis Corona kam, und mit ihm die Pflicht zu "social distancing" – eine perfekte Gelegenheit, um Belegschaften in kontaktlose, digital vernetzte Heimarbeiter*innen zu verwandeln.

Die Pandemie hat uns gezeigt, schreiben die Transformationsforscher Thomas und Daniel Dettling, dass "eine coole und kooperative Arbeitswelt" möglich ist. Nun müssten sich noch die Unternehmen anstrengen, um "Leadership, Kultur und Kompetenzentwicklung" entsprechend umzustellen. Tun sie das nicht, warnen die Dettlings, "werden sie verschwinden müssen".

Stress und Vereinsamung

Wie kommen aber die Betroffenen mit der neuen Situation zurecht? Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov und des Projektmanagementanbieters Asana zu urteilen, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Nicht, dass keine positiven Effekte zu vermelden seien. Viele geben an, sich schon am Wegfallen der Pendelzeit zwischen Domizil und Arbeitsplatz zu erfreuen. Kein Stau, keine überfüllten Züge, keine beruflichen Flüge, damit ist etwas an Lebensqualität und Umweltschutz gewonnen. Manche genießen es, auf Dresscode verzichten zu können, andere, keine nervigen Kollegen ertragen zu müssen.

Dennoch hadern die meisten Beschäftigten mit ihrer Motivation. Fast jede*r Zweite kann die gestellten Aufgaben nicht so gut wie im Büro erledigen. Zum Beispiel weil zu Hause die nötigen Mittel fehlen: Arbeitszimmer, Schreibtisch, Computer, Internetverbindung. Mangels einer räumlichen Trennung zwischen Arbeit und Freizeit erklärt ein Viertel der Befragten, nicht abschalten zu können und folglich unter Stress zu leiden. Ein weiteres Viertel beklagt die durch physische Distanz erschwerte Kommunikation mit den Kollegen. Noch problematischer: die Zeiteinteilung. Lediglich 29 Prozent schaffen es, ihre üblichen Arbeitszeiten einzuhalten. Die anderen geben an, länger als sonst zu arbeiten. Hinzu kommt für die meisten Eltern die Verquickung von Berufsausübung und Kinderbetreuung. Schließlich vermissen drei unter vier Beschäftigten ihre sozialen Kontakte im Büro.

Interessant ist bei Umfragen immer, wie sie in Schlagzeilen entstellt werden. Wenn beschauliche 26 Prozent der Befragten sich vorstellen könnten, auch nach Corona von Zuhause aus zu arbeiten, dann meldet etwa die FAZ triumphal: "Fast jede Dritte wünscht sich Homeoffice für immer"! Sicherlich kann sich eine Minderheit problemlos an die neue Arbeitswelt anpassen. Sie sind meistens männlich, jung, kinderlos, hochqualifiziert, verfügen über das adäquate Domizil und die geeignete Position dafür. Nur wie ist es mit den anderen? Alles eine Frage der Gewöhnung, antworten die Experten.

Mit dem Corona-Ausbruch mussten die Beschäftigten völlig unvorbereitet ins kalte Wasser springen. Es sei normal, dass sie anfangs damit hadern, doch mit etwas Zeit und Organisation seien ihre Probleme durchaus behebbar. Zumal die Unternehmen dazu beitragen werden. Langfristig sei von Menschen kein Produktivitätsgewinn zu erwarten, die am Küchentisch mit veralteten PCs und schwacher Leitung operieren. Arbeitgeber würden also in die häuslichen Stellen investieren müssen. Man darf gespannt sein, wie das geht. Wird für das Bürozimmer die Miete übernommen? Es mit moderner Digitaltechnik großzügig ausgestattet? Der Soziologe Werner Eichhorst antwortet vorsichtig: "Das sollten Unternehmen und Mitarbeiter in individuellen Vereinbarungen aushandeln."

Damit wird ein weiteres Problem sichtbar. Wenn jede*r abgekapselt im eigenen Zimmer sitzt und mit der Firma nur virtuell verbunden ist, dann sind kollektive Beschwerde, Forderungen und Abmachungen schwer vorstellbar. Auch für Gewerkschaften wäre die vollendete Atomisie- rung, die Aufspaltung des Arbeitsverhält-nisses eine gewaltige Herausforderung.

Künstliche Intelligenz und prekäre Jobs

Allerdings wird die Tragweite des Phänomens maßlos überschätzt. Aufgrund der Pandemie sind acht von zehn Angestellten, deren Job es ermöglichte, ins Homeoffice geschickt worden. Und doch ist das im Verhältnis zur Gesamtheit der Berufstätigen lediglich ein knappes Viertel. Nach wie vor sind die meisten Aufgaben nicht digitalisierbar. Und das sollte eben die eigentliche Lehre aus der Corona-Krise sein: Ohne Krankenpfleger*innen, Feuerwehrleute, Verkäufer*innen, Handwerker*innen, Busfahrer*innen oder Erntehelfer*innen kann eine Gesellschaft keine Woche überleben.

Doch sind solche Berufe am schlechtesten bezahlt und – auch gegen Viren – ungeschützt. Sollten sich die Zukunftsplaner nicht eher um bessere Bedingungen in "systemrelevanten" Branchen kümmern? Zumal das Beispiel Amazon zeigt, dass digitale Dienste und Künstliche Intelligenz nicht weniger, sondern mehr prekäre Jobs in Warenlagern, elektronischen Sweatshops und Paketdienstzulieferfirmen schaffen.

Um den angeblich alternativlosen Digitalisierungsprozess zu begreifen, müssen wir das Augenmerk auf die USA richten. Schließlich sind dort die Tech-Giganten ansässig, die unseren Lebensalltag bestimmen: Microsoft, Apple, Google, Amazon, Facebook, neuerdings auch der Videokonferenz-Anbieter Zoom, der dank Corona 200 Millionen Nutzer gewonnen hat und dessen Aktienwert um 300 Prozent angestiegen ist. Dort wird unaufhörlich eine Welt entworfen, in der Geschäfte, Schulen, Arztpraxen, Kinos, Fitnessstudios, womöglich Gefängnisse und natürlich auch Büros überflüssig gemacht und durch digitale Leistungen ersetzt werden. Das Domizil muss niemals verlassen werden, alle zwischenmenschlichen Beziehungen vermittelt ein Privatkonzern.

Was nach negativer Utopie klingt, ist mit Corona-bedingten Ausgangsperren ein Stück Wirklichkeit geworden, und die besagten Konzerne wollen es verständlicherweise gern vorantreiben. Das Projekt denkt gewaltige politische Maßnahmen mit. Es setzt massive staatliche Investitionen in KI-Forschung und digitale Infrastrukturen voraus, wie es bereits die konkurrierende Großmacht China vormacht. Bloß werden die zu diesem Zweck verwendeten Summen dann für Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme fehlen, bemerkt Globalisierungskritikerin Naomi Klein: "Wir ste- hen vor der realen und schwierigen Wahl: Entweder wird in Menschen investiert, oder in Technologie. Für beides wird das Geld höchstwahrscheinlich nicht reichen."

Wirtschaftsexperten beteuern, Deutschland dürfe die digitale Transformation nicht verpassen, um in dem durch die Krise verschärften globalen Wettbewerb mithalten zu können. Es fragt sich jedoch, ob der Wandel nicht mehr Menschen auszuschließen droht als zu integrieren? Und ob es wünschenswert ist, profitorientierten Konzernen die Gestaltung des sozialen Miteinanders zu überlassen? Der Post- Corona Zeit stehen große Entscheidungen bevor.

"Wir stehen vor der realen und schwierigen Wahl: Entweder wird in Menschen investiert, oder in Technologie. Für beides wird das Geld höchstwahrscheinlich nicht reichen."
Globalisierungskritikerin Naomi Klein