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Protest der Initiative Lieferkettengesetz am 5. Oktober in BerlinFoto: Renate Kosßmann

Es ist 16:19 Uhr am 5. Oktober 2020, als Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, vor der Verti Music Hall am Mercedes-Benz-Platz in Berlin in einer Audi-Limousine vorfährt. Seine massige Statur ist auch durch die verdunkelten Scheiben seines Dienstwagens zu erkennen. Für ihn aus dem Wagen heraus unübersehbar sind die Protestierenden der Initiative Lieferkettengesetz. In weißen Schutzanzügen und mit Mund-Nasen-Schutz halten ihm sechs Menschen große weiße Schilder entgegen, die unter anderem die schlimmsten Katastrophen der letzten Jahre in den Produktions- und Lieferketten deutscher Unternehmen aufzählen. 34 Tote 2012 bei einem Streik in einer südafrikanischen Mine. 1.135 Tote 2013 beim Einsturz eines Textilfabrikgebäudes in Bangladesch. 272 Tote 2019 bei einem Dammbruch in Brasilien. Für das Jahr 2020 ist festgehalten: "Immer noch kein Lieferkettengesetz".

Es hat begonnen zu regnen, und in einer Minute erwarten Altmaier in der Music Hall die Gäste zum "Tag der Industrie" des BDI, des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Für die Protestierenden, die Altmaier beim Aussteigen mehrfach zurufen "Lieferkettengesetz jetzt", hat er nur ein kurzes Winken und Lächeln übrig, als stünden dort seine Fans mit Fanplakaten. Auf die Frage, ob er eine Minute Zeit habe, reagiert er nicht. Nur seinen "Gefällt-mir-Daumen" hebt er noch. Was auch immer das bedeuten mag.

Der Blockierer

Drinnen – das lässt sich draußen per Livestream auf dem Handy verfolgen – wird er bereits von der Moderatorin angekündigt. Sie redet von den grünen Technologien, die es für die Zukunft brauche, eventuell auch politische Rahmenbedingungen, und möglicherweise müssten alle auch etwas "aufgeben". Der Initiative Lieferkettengesetz ist vor allem daran gelegen, dass Altmaier seine Blockade gegen das von der Regierungskoalition geplante Lieferkettengesetz aufgibt. Johannes Schorling vom entwicklungspolitischen Netzwerk Inkota erklärt alldieweil den umherstehenden Passanten durch ein Megafon, worum es der Initiative Lieferkettengesetz – einem Zusammenschluss von rund hundert Organisationen, darunter auch ver.di – geht. Dass in Deutschland ansässige Unternehmen gesetzlich verpflichtet werden, auch im Ausland Menschenrechte, Arbeitsschutz, das Recht auf Gewerkschaftsvertretung und Umweltstandards zu achten. Dass sie für Schäden an Menschen und Umwelt in ihren Wertschöpfungsketten verantwortlich und – sollten sie diesbezüglich ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen – zudem haftbar gemacht werden können. Und dass auch Geschädigte gegebenenfalls vor deutschen Gerichten klagen können.

"Es gibt eine Person", sagt Schorling dann, "die das mit allen Mitteln versucht zu verhindern: Das ist Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier." Und das, obwohl sich neben immer mehr Unternehmen einer repräsentativen Umfrage nach auch eine breite Bevölkerungsmehrheit von 75 Prozent ein Lieferkettengesetz wünscht. Im Wald voll lauter Siegeln durchdringen die Verbraucher*innen oft schon nicht mehr, was welches Siegel über ein Produkt aussagt. Welches etwa Schokolade zertifiziert, für die kein Kind geschuftet hat. Oder welches ein T-Shirt reinwäscht, an dem vom Baumwollfeld begonnen bis zur Näherin alle anständig verdient haben.

Der Gesetzesentwurf

Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, CSU, und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, haben bereits im Dezember einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt. Angelehnt ist er an den "Grünen Knopf" – das bereits bestehende staatliche Textilsiegel. Mit ihm werden Textilien ausgezeichnet, die nach 26 sozialen und ökologischen Mindeststandards hergestellt wurden, zu denen unter anderem die Zahlung von Mindestlöhnen, die Einhaltung von Arbeitszeiten und das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit zählen. Die ökologischen Standards umfassen zum Beispiel das Verbot von Weichmachern und anderen gefährlichen Chemikalien.

Der "Grüne Knopf" prüft darüber hinaus auch die herstellenden Unternehmen. Sie müssen anhand von 20 Unternehmenskriterien nachweisen, dass sie menschenrechtliche, soziale und ökologische Verantwortung übernehmen, indem sie unter anderem Fragen beantworten wie: Gibt es Beschwerdemechanismen vor Ort? Schafft das Unternehmen Missstände ab? Legt es Risiken in seiner Lieferkette offen? Diesen und ähnlichen Fragen sollen sich zukünftig alle Unternehmen in Deutschland ab 500 Beschäftigten stellen müssen. Und gegebenenfalls haften, wenn sie die Mindeststandards nicht achten.

Doch haften wollen die meisten Unternehmen eben nicht. Das hat auch die Diskussionsrunde zum Lieferkettengesetz auf dem "Tag der Industrie" ergeben. Alle Anwesenden aus der Wirtschaft betonten, dass sie ohnehin und selbstverständlich den Menschenrechten und Arbeitsschutzbestimmungen nach den Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verpflichtet seien. Der Vertreter von VW, Kurt Michels, hauptverantwortlich für die Überwachung der Lieferketten bei dem Automobilhersteller, blieb der einzige Diskutant, der ein Lieferkettengesetz ausdrücklich begrüßte. Es gehe vor allem darum, nicht "wegzusehen", wenn Lieferanten Rechte verletzten, sagte er. Dass dies leider noch viel zu oft geschehe, betonte der Parlamentarische Staatssekretär aus Müllers Ministerium, Norbert Barthle.

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Grafik: Initiative Lieferkettengesetz

Gerd Müllers Parteikollegin, die Bundestagsabgeordnete Katrin Staffler, hatte der Süddeutschen Zeitung einen Tag zuvor gesagt: "Es gibt Vorbehalte, aber entscheidend ist doch, wie das Gesetz aussehen wird. [...] Im Übrigen wäre ein Lieferkettengesetz ein positives Signal. Es würde zeigen, dass das Qualitätsversprechen Made in Germany eine ethische Komponente hat."

Die Zahlen

Welche Eckpunkte Müllers und Heils Gesetzentwurf derzeit tatsächlich noch vorsieht, seit Altmaier es für die Wirtschaft so weich wie möglich spülen möchte, ist unklar. Müller will keinesfalls auf die Haftungsklausel verzichten und es noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. Dass es ein solches Gesetz dringend braucht, sagen immer wieder die nackten Zahlen, auch folgende: Laut der ILO arbeiten aktuell 152 Millionen Kinder, statt zur Schule zu gehen, 73 Millionen Menschen arbeiten unter gefährlichen Bedingungen und laut dem Global Slavery Index weltweit über 40 Millionen unter sklavenähnlichen Verhältnissen. Laptops, Computer und Mobiltelefone im Wert von 15.420 Millionen Euro, die 2018 in Deutschland importiert wurden, waren mit dem Risiko behaftet, unter "moderner Sklaverei" produziert worden zu sein, ebenso wie Bekleidung im Wert von 10.448 Millionen Euro und Kakao im Wert von 562 Millionen Euro.

Zuletzt hatte sich am 17. September im Bundestag der CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer für ein Lieferkettengesetz ausgesprochen: "Es gibt kein Recht auf Profit zulasten der Menschenrechte", sagte er und erinnerte an das "C" im Namen seiner Partei, mit dem manche es nicht so genau nähmen. Auch der Bundeswirtschaftsminister bisher nicht.

lieferkettengesetz.de

Editorial

Nicht überall, wo Butter draufsteht, ist auch Butter drin. Verbraucher und Verbraucherinnen haben inzwischen dazugelernt. Zum Beispiel Informationen auf der Verpackung eines Produkts genau zu lesen. Trotzdem klebt an unzähligen Produkten noch die Arbeit von prekär Beschäftigten, von Ausgebeuteten. Und weil das so ist, bedarf es dringend gesetzlicher Regelungen vor allem für den globalen Handel wie etwa ein Lieferkettengesetz. Verbraucher*innen brauchen Schutz, das zeigt dieses Spezial, so auch vor Pseudo-Ratgebern (Seite V2). Aber auch Beschäftigte brauchen eben Schutz wie die von H&M (V4–V5). pewe