Ausgabe 01/2021
Betriebliches Eingliederungsmanagement – Zurück in den Betrieb
Walter Brinkmann war 12 Jahre lang Betriebsratsvorsitzender eines Telekombetriebes und ist ehrenamtlicher ver.di-Funktionär im Ruhestand. Auf change.org hat er eine Petition an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil gestartet, um die Rechte der Beschäftigten und der betrieblichen Interessenvertretungen im Verfahren für das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) zu verbessern und zu stärken.
ver.di publik: Was ist Betriebliches Eingliederungsmanagement, BEM?
Walter Brinkmann: Wenn jemand in einem Jahr länger als sechs Wochen krank ist, soll das BEM feststellen, ob die Erkrankung mit dem Arbeitsleben, mit der ausgeführten Tätigkeit zu tun hat und was man für eine Wiedereingliederung tun kann. Der Arbeitgeber muss klären, so steht es im Gesetz, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
ver.di publik: Wie kann das konkret aussehen?
Brinkmann: In meiner Zeit als Betriebsratsvorsitzender hatten wir beispielsweise mehrfach Beschäftigte, die wegen der schlechten akustischen Rahmenbedingungen unserer Großraumbüros krank geworden sind. In den BEM-Gesprächen ging es dann darum, ob man den Beschäftigten einen anderen Arbeitsplatz außerhalb des Großraumbüros anbieten kann. Wo es keine Alternative gab, haben wir beispielsweise Homeoffice durchsetzen können.
ver.di publik: Warum braucht es jetzt eine Petition? Warum muss das BEM verbessert werden?
Brinkmann: Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 2016 hat die Rechte der Beschäftigten und betrieblichen Interessenvertreter im BEM-Verfahren eingeschränkt. Ein Arbeitgeber hatte gegen die Einrichtung eines BEM-Teams im Betrieb geklagt. Solche Teams, die verantwortlich für die Begleitung der BEM-Gespräche sind, waren übliche Praxis und stellen eine gute Lösung in den Betrieben dar. Das Bundesarbeitsgericht urteilte, dass die Einrichtung des BEM-Teams rechtswidrig sei. Es legte fest, dass durch Einigungsstellen keine paritätischen BEM-Teams mehr festgelegt werden dürfen und dass der Beschäftigte selbst bestimmen muss, ob beim BEM-Prozess ein Interessenvertreter dabei sein soll oder nicht. Mit der Konsequenz, dass der Betriebsrat als Interessenvertreter abwählbar ist bei der Begleitung des BEM. Das Gerichtsurteil konnte so negativ ausfallen, weil die rechtlichen Bestimmungen im Sozialgesetzbuch zum BEM zu unklar gefasst sind. Diese Rechtslücken müssen geschlossen werden.
ver.di publik: Welche Auswirkungen hatte das BAG-Urteil in der Praxis?
Brinkmann: Die Arbeitgeber hatten nach dem Urteil Instrumente in der Hand, vorhandene Betriebsvereinbarungen zu kündigen. Und die haben sie genutzt. Im Konzern Deutsche Telekom beispielsweise wurden sämtliche BEM-Vereinbarungen gekündigt und Verschlechterungen durchgesetzt – was die Rechte der Beschäftigten und der Betriebsräte, was die Begleitung des BEM und insbesondere auch, was den Suchprozess angeht. Denn wenn es keine paritätisch besetzten BEM-Teams mehr gibt und der Betriebsrat beim BEM abwählbar ist, findet kein gemeinsamer Suchprozess zu einer Wiedereingliederungs-Lösung mehr statt. Es gibt – auch für den Betriebsrat – keine Kontrollmöglichkeit mehr, ob das BEM erstens ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, und zweitens, ob der Arbeitgeber alles gemacht hat, was man vom ihm erwarten kann, damit der Beschäftigte eine gute Perspektive erhält. Der Arbeitgeber muss dem Beschäftigten nur noch einmalig einen Vorschlag machen, was zum Beispiel die Änderung des Arbeitsplatzes angeht, und dann wird nicht mehr überprüft, ob das für den Beschäftigten wirksam ist.
ver.di publik: Das hebelt die Mitbestimmung aus ...
Brinkmann: Es ist ein Unding. Bei Versetzung oder Eingruppierung, wo die Mitwirkung des Betriebsrats festgeschrieben ist, kann der Arbeitgeber ja auch nicht sagen, dass das Thema ohne Betriebsrat behandelt wird. Dass beim BEM der Betriebsrat abgewählt werden kann, ist sozusagen ein Systembruch, was die Mitbestimmung der Betriebsräte angeht. Der Arbeitgeber kann Einfluss auf den Beschäftigten nehmen – man hat ja nicht immer die selbstbewussten Arbeitnehmer, die sagen, sie möchten auf jeden Fall einen Betriebsrat dabeihaben.
Damit wird das BEM für die betroffenen Beschäftigten nutzlos: Wenn keine fachkundigen und erfahrenen Betriebs-, Personalräte und Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung an der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten teilnehmen, ist es einfach für den Arbeitgeber festzustellen: keine leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeit vorhanden! Das hat zur Folge, dass der Beschäftigte weiterhin erkrankt, teilweise auch psychisch, und die Krankentage weiter zunehmen. Und dann kommt es entweder zur verhaltensbedingten Kündigung oder der Beschäftigte kündigt von sich aus, weil er es nicht mehr erträgt.
ver.di publik: Deine Petition fordert deshalb eine Gesetzesänderung.
Brinkmann: Hubertus Heil hatte auf einer Betriebsrätekonferenz im Jahr 2019 eine Gesetzesinitiative zugesagt. Leider gibt es bis zum heutigen Tag dazu keinerlei Aktivitäten. Nach Auffassung des Bundesarbeitsministeriums – ich habe mit der Referatsleiterin Kontakt aufgenommen – gibt es angeblich kaum Probleme in der Praxis und damit keinen Handlungsbedarf.
ver.di publik: Was nun?
Brinkmann: Aktuell sammle ich konkrete Beispiele von Betriebs- und Personalräten, Mitarbeiter- und Schwerbehindertenvertretungen aus verschiedensten Branchen und Behörden, wo Probleme bis hin zu eindeutigen Gesetzesverstößen belegbar sind. Ich habe schon eine Vielzahl von gravierenden Rückmeldungen erhalten.
ver.di publik: Zum Beispiel?
Brinkmann: An einer Uni hatte eine Beschäftigte ein BEM beantragt. Mit der Folge, dass sie zwar nun ein Einzelbüro hat, ihr aber die Aufgaben entzogen wurden und sie nun den ganzen Tag allein im Büro sitzt und gegen die Wand guckt. In einem anderen Betrieb müssen sich BEM-Berechtigte auf ausgeschriebene Stellen im Unternehmen bewerben. Dabei wird von den neuen Vorgesetzten nicht gewünscht, dass sie Krankheitstage aufweisen. Das ist haarsträubend. Ein Arbeitnehmer aus einem Interessenverbund berichtet, dass Beschäftigte, die ein BEM einfordern, nicht eingeladen werden. Es werden keine Maßnahmen ergriffen, bis sie in der Arbeitslosigkeit landen. In anderen Unternehmen werden BEM-Berechtigte genötigt, schlechtere Arbeitsverträge zu unterschreiben. Oder sie werden aufgefordert, sich weiter krankschreiben zu lassen. Die Liste ist lang. Egal ob in Behörden oder in privaten Unternehmen.
ver.di publik: Wie geht es jetzt weiter?
Brinkmann: Das Ziel ist es, zu versuchen, eine Gesetzesinitiative in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen. Ob das gelingt, hängt davon ab, wie viel Unterstützung die Initiative bekommt, um möglichst von vielen verschiedenen Seiten den Arbeitsminister aufzufordern, tätig zu werden. Es ist absolut wichtig, dass viele Gewerkschafter, Betriebsräte, Personalräte und Schwerbehindertenvertretungen darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Petition noch läuft und unterschrieben werden kann.
Interview: Fanny Schmolke
Zur Petition: chng.it/8HNLCBKj