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Wettrennen der Traktoren: industrielle Turbolandwirtschaft aus der Luft betrachtetFoto: ximago images/imagebroker

Die Corona-Pandemie übertrug das Wissen in jedes Wohnzimmer: Die Arbeit in deutschen Schlachthöfen ist Ausbeutung. Immer wieder Bilder von dicht an dicht stehenden Menschen, die vor ihnen hängende Schweine- und Rinderhälften zerlegen – anstrengende und gefährliche Arbeit bei niedrigen Temperaturen, manchmal 16 Stunden hintereinander. Offiziell waren sie nicht bei den Betreibern der Schlachthöfe beschäftigt, sondern bei osteuropäischen Sub-Sub-Sub-Unternehmen. Seit Anfang des Jahres ist das nun illegal. Vergeblich hatte der Milliardär und führende Schlachthofbetreiber Clemens Tönnies versucht, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, davon abzubringen. "Ein generelles Verbot von Werkverträgen in der Fleischwirtschaft hätte massive, strukturell-negative Veränderungen für die Agrarwirtschaft zur Folge," warnte er in einem Brief.

Doch diesmal nützten Lobbyismus und Drohungen nichts. Schlachthöfe müssen die dort arbeitenden Menschen selbst anstellen und bei Verstößen gegen die Höchstarbeitszeit drohen ihnen 30.000 Euro Bußgeld. Ob sich die Lage tatsächlich verbessert, wird sich zeigen; die Vorgängerregel blieb mangels Überprüfungen wirkungslos. "Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz wird eine verbindliche, branchenübergreifende Besichtigungsquote von jährlich 5 Prozent aller Betriebe vorgegeben", begründet der Sprecher des Bundesarbeitsministeriums, warum nun alles besser werde. Die gilt allerdings erst ab 2026.

Wachsen oder weichen

Für die ausländischen Saisonkräfte, die in der Erdbeer-, Spargel- und Weinernte unter ähnlichen Bedingungen schuften, reichte die Medienaufmerksamkeit im vergangenen Jahr nicht aus, um ihren Schutz zu verbessern. "Die Menschen werden hermetisch abgeschottet und es ist fast unmöglich, in Kontakt mit ihnen zu kommen", sagt Pagonis Pagonakis, der das Projekt "Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten" beim Verein "Arbeit und Leben DGB/VHS NRW" koordiniert. Dabei ist klar, dass es auf vielen Feldern nicht besser zugeht als in der Fleischindustrie.

Ursache solch katastrophaler Zustände, die an frühkapitalistische Zeiten erinnern, ist der enorme Preisdruck im gesamten Lebensmittelbereich. Gab es in Westdeutschland in den 1970er Jahren noch über eine Million Bauernhöfe, so sind es heute in ganz Deutschland nur noch etwa 250.000 – mit viel größeren Flächen. "Wachse oder weiche" ist das Motto der industrialisierten Landwirtschaft. Gerade 1,7 Prozent der Beschäftigten verdienen heute dort noch ihr Geld.

Die Lage der Bäuerinnen und Bauern ist äußerst schwierig. Sie sind in der Mitte der Lieferkette eingequetscht zwischen weltweit agierenden Agrokonzernen, von denen sie Saatgut und Chemie beziehen, und mächtigen Abnehmern. Neben Schlachthöfen sowie Molkereien zählen dazu Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé und Supermarktketten. Vier Unternehmen teilen sich in Deutschland den Lebensmittel-Einzelhandel: Edeka, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland, Rewe und Aldi. Wer dort seine Waren aufs Kassenband legt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Nestlé ein bisschen reicher gemacht: Maggi, Kitkat, Nescafé, Vittel, Mövenpick, Alete, Nesquik oder Bübchen sind nur ein paar der Marken des Weltkonzerns.

Knebelliste der Händler

Die Einzelhandelsunternehmen setzen ihre Lieferanten massiv unter Druck. Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat kürzlich eine "Knebelliste" mit 40 verschiedenen Methoden öffentlich gemacht. Wer seine Ware loswerden will, muss sich an den Renovierungskosten der Läden beteiligen, vielfältigste Rabatte einräumen oder eine Listungsgebühr entrichten, damit ein Produkt überhaupt ins Regal kommt. Auch Kosten fürs Marketing oder die Entsorgung von Verpackungsmaterial stellen die Supermärkte in Rechnung.

Aufgrund solcher Dumpingmethoden können viele Lieferanten nicht einmal ihre Herstellungskosten decken. Dass Staaten durchaus die Möglichkeiten haben, gegen solche Praktiken vorzugehen, zeigt Spanien. Dort müssen die Produktionskosten inklusive Löhne transparent gemacht werden – und so viel haben die Abnehmer mindestens zu zahlen, sonst drohen hohe Geldstrafen. In Deutschland dagegen drücken die Discounter die Milch- und Fleischpreise immer wieder unter die Entstehungskosten, was verzweifelte Landwirte auf die Straße treibt.

Die Aldi-Familie ist dank solcher Rah-menbedingungen zur reichsten Familie Deutschlands geworden; mit dem Vermögen der drei Haupterben ließen sich zweieinhalb Jahre lang die Hartz-IV-Kosten decken. Auf Platz zwei der Reichen-Liste steht ein Lidl-Erbe. Was mit dem Geld so alles passiert, ist unklar – sicher ist aber, dass eine Aldi-Erbin im großem Stil Ackerland in Ostdeutschland erworben hat und dafür jährlich 3,1 Millionen Euro EU-Agrarsubventionen kassiert. Weil die Pacht- und Kaufpreise für landwirtschaftliche Flächen durch solche Investoren in die Höhe schnellen – in Brandenburg und Sachsen binnen zehn Jahren um fast 200 Prozent, in Bayern und Niedersachsen um über 150 Prozent – haben Jungbäue*rinnen kaum noch eine Chance neu einzusteigen.

In den Fängen der Saatgutproduzenten

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Reissaat: Landwirtschaft per Hand in Kashmir/IndienFoto: Aasif Shafi /picture alliance / Pacific Press

Nicht nur für Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit ihr Geld verdienen, sind diese Entwicklungen verhängnisvoll. Die Art der heutigen Essensproduktion ruiniert auch die Umwelt. Mindestens ein Viertel der klimaschädlichen Gase sind darauf zurückzuführen: In der industrialisierten Landwirtschaft verlieren die Böden immer mehr kohlenstoffbindenden Humus, Kunstdünger basiert auf Erdöl, Regenwälder werden für den Anbau von Tierfutter geopfert, Obst reist um die halbe Welt – um nur einige Beispiele zu nennen.

Während bereits Dreiviertel aller Nutzpflanzen ausgestorben sind, können sich die heute dominierenden Hochertragssorten nicht mehr selbst vermehren; das Prinzip des Lebens wurde bei ihnen zerstört. So sind Bauern und Gärtnerinnen gezwungen, jedes Jahr neues Saatgut bei Konzernen wie Bayer oder Syngenta Group einzukaufen – und das funktioniert meist nur im Doppelpack mit deren Agrochemikalien.

"Weiter so wie bisher ist keine Option", lautete das Fazit der 400 internationalen Wissenschaftler*innen, die 2008 den Weltagrarbericht verfasst haben. Zugleich ihre gute Nachricht: Die gesamte Menschheit lässt sich gut ernähren, ohne dass der Planet dabei ruiniert wird. Kleinteilig, vielfältig, regional angepasst – so sieht eine zukunftsfähige Landwirtschaft aus. Ein wichtiger Hebel liegt bei der EU-Agrarpolitik, die Subventionen bisher vor allem pro Hektar verteilt und damit die Großen bevorzugt. Oxfam plädiert für eine Entflechtung der Marktmacht im Einzelhandel und Dumpingverbote wie in Spanien. Auch gilt es, das Lebensmittelhandwerk und die regionale Verarbeitung zu stärken: Das schafft sinnvolle Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft vor Ort. All das sind Aufgaben der Politik. Doch die wird nur reagieren, wenn sie massiven Druck aus der Bevölkerung spürt.

Die Zahl derer wächst, die nicht länger auf Kosten anderer Menschen und der Natur leben möchten. Zehntausende demonstrieren jedes Jahr unter dem Motto "Wir haben es satt", was diesmal allerdings nur auf dem Papier und online möglich war. In vielen Städten haben sich Ernährungsräte gegründet, um die Transformation voranzutreiben. Allenthalben schließen sich Produzent*innen und Konsument*innen zusammen. Knapp 350 Betriebe arbeiten bereits nach dem Prinzip solidarische Landwirtschaft – Tendenz rasant steigend. Dabei finanzieren die Mitglieder die Arbeit der Bauern und bekommen jede Woche einen Ernteanteil; der Zwischenhandel ist ausgeschaltet, das Risiko geteilt. In Berlin entsteht nach Pariser und New Yorker Vorbild die erste Supercoop: Alle Mitglieder arbeiten drei Stunden pro Monat im Laden, bekommen frische Biolebensmittel zu erschwinglichen Preisen und können sicher sein, dass die Produzent*innen fair bezahlt werden. Ein paar Kilometer entfernt an der technischen Uni planen Studierende eine "Mensarevolution".

Noch sind das alles kleine Pflänzchen. Aber die Beispiele zeigen, dass viele wissen möchten, was auf ihren Tellern liegt, und dafür auch die Verantwortung übernehmen wollen. Schließlich ist das Fazit der Wissenschaftler*innen von vor zwölf Jahren unmissverständlich: "Weiter so wie bisher ist keine Option."