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Kein Wohnhaus, sondern die Markthalle in RotterdamFoto: Flip Franssen/Hollandse Hoogte/laif

Die meisten Konsumgüter sind in den vergangenen Jahrzehnten immer billiger geworden. Anfang der 1970er Jahre kostete ein Farbfernseher etwa zehn Mal so viel wie heute. Auch die Preise für Kleidung, Küchengeräte oder Lebensmittel sind tendenziell gesunken. Für diejenigen, die die Dinge produzieren, ist das fatal. In den Elektronik- und Textilfabriken Asiens schuften heute viele Menschen bis zu 15 Stunden am Tag, um nur das Nötigste zu verdienen. Corona hat die Lage weiter verschärft: Weil die Läden in Europa schließen mussten, stornierten einige Firmen ihre Lieferverträge. Auch bereits gefertigte Ware nahmen sie einfach nicht mehr ab. Ein erheblicher Teil der Belegschaften wurde entlassen, die Löhne gesenkt – und manche bekamen sogar für die bereits geleistete Arbeit kein Geld, wie eine Studie von Südwind und Inkota beispielhaft für die indische Schuhindustrie belegt. Viele Betroffene verschulden sich immer weiter, um zu überleben.

Mehr Rohstoffbedarf, mehr Müll

Wenn alles billiger wird, muss mehr produziert und verkauft werden – denn Aktionärinnen und Unternehmer erwarten schließlich Renditen. Nur wenn ihre Geldberge absehbar wachsen, sind sie bereit zu investieren. Doch wie lässt sich die Kundschaft dazu bewegen, immer neues Zeug zu kaufen? Entweder die Dinge sind so gefertigt, dass sie rasch kaputt gehen und nicht reparabel sind: Geplante Obsoleszenz heißt das im Fachjargon. Oder die Menschen werden durch immer umfangreichere Softwareprogramme, rasant wechselnde Modezyklen oder andere Neuerungen dazu gedrängt, ständig einkaufen zu gehen oder online zu bestellen. Die Folgen von alledem sind ein endlos steigender Rohstoffbedarf und zunehmende Müllmengen. Jedes Grundschulkind versteht, dass das auf einem endlichen Planeten nicht dauerhaft gut gehen kann.

Die Spaltung der Gesellschaft

Eine andere Folge dieser Art des Wirtschaftens ist ein Konzentrationsprozess in vielen Branchen. Im dauernden Unterbietungswettbewerb können nur Unternehmen mithalten, die riesige Mengen absetzen: Sie sind am besten in der Lage, ihre Lieferanten unter Druck zu setzen. Betriebe, die nicht mehr mithalten können, müssen entweder schließen oder werden von ihren Konkurrenten geschluckt – was in beiden Fällen Macht und Marktanteile der Verbleibenden ausweitet. Egal ob Handy-Hersteller oder Bäckereien – überall dominieren heute wenige Große den Markt.

Damit einher geht eine wachsende Spaltung der Gesellschaft. In Deutschland besitzen 45 Familien so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Längst haben die Vermögenden so viel Geld angehäuft, dass es sich nicht mehr sinnvoll in neue Fabriken anlegen lässt: Noch mehr Klamotten, Waschmaschinen oder Haartrockner? Das würde deren Preise nur um so schneller in den Keller treiben.

So wurden die Finanzmärkte in den vergangenen Jahrzehnten immer bedeutsamer: Dort lässt sich aus Geld noch mehr Geld machen. Inzwischen übersteigt das Volumen der Finanzmärkte die Realwirtschaft um ein Vielfaches. Das Dumme ist nur, dass sich mit diesen Reichtümern weiterhin ganz reale Werte kaufen lassen. Boden und Häuser zum Beispiel. Weil reiche Leute und Finanzfonds im großen Stil Grundstücke und Wohnungsgesellschaften gekauft haben, sind die Mieten in Berlin oder München in den vergangenen Jahren geradezu explodiert.

Bildung, Gesundheit, Kultur – alles machen Investoren zur Ware. Auch Betriebe wie Pflegeeinrichtungen wurden auf Profit ausgerichtet, obwohl das ihrem Sinn und Wesen völlig widerspricht. In Krankenhäusern steht nicht der Bedarf der einzelnen Patienten und Patientinnen im Zentrum, sondern die Optimierung der Betriebsabläufe auf das Abrechnungssystem nach Fallpauschalen. Für die Beschäftigten ist das hochbelastend: Sie leiden nicht nur unter enormem Arbeits- und Zeitdruck, sondern die Rahmenbedingungen widersprechen auch ihrem Wunsch, hilfsbedürftige Menschen bestmöglich zu versorgen.

Raus aus der Sackgasse

Wirtschaftliches Denken dominiert inzwischen so gut wie alle Lebensbereiche – und dabei führt es immer weiter in die Sackgasse: Es fördert sowohl Ungerechtigkeit als auch Umweltzerstörung. Zugleich zeigt die Pandemie überdeutlich, dass der Markt in Krisenzeiten gar nichts regelt. Griffe der Staat nicht ein, wäre die Wirtschaft längst kollabiert. Die Politik müsste ihre Handlungsmacht endlich nutzen, um die Finanzmärkte einzuschränken, die zum Motor des Wachstumswahnsinns geworden sind. Auch die seit über 20 Jahren ruhende Vermögenssteuer sollte sie wieder einführen. Das Geld wird dringend gebraucht.

Hunderte von Milliarden wird die Europäische Union zur Überwindung der Corona-Krise ausgeben. Jetzt kommt es darauf an, die Weichen richtig zu stellen. Ein "Zurück zum Alten" darf es nicht geben. Stattdessen muss das viele Geld sowohl ein "gutes Leben für alle" als auch die ökologische Tragfähigkeit fördern.

Das Schöne ist: Beides passt wunderbar zusammen. Schulen und Gesundheitssystem sollten entsprechend ihren ursprünglichen Zielen ausgestattet werden – und das heißt vor allem: In gute Arbeitsbedingungen investieren. Auch regionale Wirtschaftskreisläufe, Haltbarkeit und Reparaturfähigkeit von Gütern, Leihsysteme, Transport- und Müllreduzierung haben ein großes Potenzial für sinnvolle Beschäftigung. Umwelt- und Menschenfreundlichkeit gehen zusammen. An dieser Zukunft sollten wir alle zusammen arbeiten – und sofort damit anfangen. Denn wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.

Schwerpunkt Seiten N4–N5

Editorial: Zwischen blau und rosig

Der blaue Planet ist vom All aus betrachtet längst nicht mehr nur blau. Und sollten wir weiter so haushalten wie bisher, sei es auf den Äckern der Erde, sei es an den Börsen der Welt, sei es auf den Straßen und in den eigenen vier Wänden und der Küche, dann wird unsere Zukunft eines nicht sein – rosig. Sie wird uns weitere Pandemien bescheren, wir werden die selbst gesteckten Klimaziele nicht erreichen, Naturkatastrophen werden weiter zunehmen, kurzum: Es ist keine schöne Zukunft, die uns da blüht, wenn die Menschheit nicht umlenkt. Die gute Nachricht: Überall hinterlassen Menschen heute schon einen nachhaltigen Fußabdruck. Wie das geht, das steht in diesem Spezial. Petra Welzel