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Kosmische StrahlenIllustration: Laëtitia Locteau

Dieses Buch ist schon im geschlossenen Zustand ein Kleinod. Fast ist man versucht, es mit Samthandschuhen anzufassen, zerbrechlich wirkt es, so ganz ohne Buchrücken. Im ersten Moment blitzt der Gedanke auf, da ist in der Buchbinderei etwas schiefgelaufen. Doch schnell erkennt das Auge die Absicht: Die Fadenbindung ist offengelegt, damit kleine schwarze Karos entlang des Rückens einen Gebirgszug mit Bergkuppen und Tälern bilden und so mit der Illustration einer Gebirgslandschaft auf dem Cover und der Rückseite auf den Inhalt verweisen. "Die Vermessung der Berge. Eine Wanderung zur Entdeckung der Weltgesetze" ist außen wie innen ein ganz besonderes Buch.

Ein Jahr lang ist die französische Schriftstellerin Blandine Pluchet in den Alpen und in anderen Landschaften gewandert, um zu verstehen, was die Welt zusammen und letztendlich auch am Leben hält. Pluchet ist nicht völlig ahnungslos, als sie sich auf den Weg macht. Sie hat vor mehr als 20 Jahren in Deutschland Physik studiert und wollte am Institut für Meteorologie und Klimaforschung im bayrischen Garmisch-Partenkirchen, am Fuße der Alpen, ihre Doktorarbeit schreiben. Doch auf ihre Bewerbung um eine Doktorandenstelle folgt eine Absage. Pluchet kehrt zurück nach Frankreich und beginnt zu schreiben. Populärwissenschaftliche Bücher über physikalisch-naturwissenschaftliche Phänomene.

Saharastaub und Böhmen-Gelbstern

Ihre Vermessung der Berge liest sich über weite Strecken wie eine spannende Reportage. Mit Blandine Pluchet geht es hoch ins Schneefernerhaus, einer Forschungsstation kurz unterhalb der Zugspitze, Deutschlands höchstem Alpengipfel mit 2.962 Metern, und hinauf zum Jungfraujoch auf 3.454 Metern in den Schweizer Alpen, zu einem der ältesten Observatorien für Physiker und Astronomen. Dort scheint seit 100 Jahren die Zeit stehengeblieben zu sein. Das Mobiliar der Labore ist unverändert alt und aus schwerem dunklem Holz. In den Vitrinen hingegen lagern die neuesten Messgeräte, High-Tech-Teleskope sind auf Himmel und Himmelskörper gerichtet. Oft bis ins kleinste Detail beschreibt Pluchet, was sie sieht und erlebt. Wie spektakulär das teils ist, erschließt sich Seite für Seite, Kapitel für Kapitel.

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Das Observatorium auf dem JungfraujochIllustration: Laëtitia Locteau

Die Alpenpanoramen, die sich ihr öffnen, brauchen keine Fotos. Die Illustrationen von Laëtitia Locteau zu jedem Buchkapitel übersetzen die Worte der Autorin in fast märchenhafte Bilder, die dennoch die Realität wiedergeben, in der Pluchet unterwegs ist. Man hört den Schnee und das Eis unter ihren Schuhen knirschen, atmet mit ihr die glasklare Luft in den Höhen ein, sieht die Pflanzen und Bäume, die sie passiert, und lauscht ihren Gesprächspartner*innen, die von ihrer Arbeit und ihrem Wissen berichten.

Von Saharastaub und kosmischer Strahlung ist da unter anderem die Rede. Und nichts davon ist schwer zu verstehen. Einzig vielleicht die Tatsache, dass viele Stadtmenschen offensichtlich den nächtlichen Himmel nicht mehr kennen. Als vor Jahren in New York und Los Angeles einmal der Strom komplett ausfiel und der Sternenhimmel samt Milchstraße sichtbar wurde, glaubten nicht wenige der Städter*innen, es handle sich um einen Giftgasangriff. Inzwischen ist die sogenannte Lichtverschmutzung, mit der wir die Nacht zum Tag machen, ein wichtiges Forschungsfeld. 30 Prozent der Wirbeltiere und 60 Prozent der wirbellosen Tiere brauchen die Nacht und ihre Dunkelheit zum Überleben. Auch das lehrt dieses Buch.

Bis auf den Grund des Ozeans

Doch Pluchet wandert nicht nur auf Gipfeln, um die Berge und ihren Einfluss auf die Erde zu verstehen. Sie ist auch in ihrer französischen Heimat, der Gâtine unterwegs. Dort entdeckt sie den Böhmen-Gelbstern, eine winzig kleine Blume, die eigentlich nur in Gebirgslagen anzutreffen ist. Doch Berge gibt es vor Pluchets Haustür nicht. Die kleine Pflanze ist eine letzte Überlebende des Gebirges, das hier vor 300 Millionen Jahren noch existierte.

Der Weg von der sanften Hügellandschaft der Gâtine führt die Autorin weiter ans Meer, bis auf den Grund des Ozeans, wenn in diesem Fall auch nur theoretisch, denn die Spuren mancher, wichtiger Gipfel liegen heute unerreichbar 20.000 Meilen unter dem Meer. Pluchet lernt, Landschaften anhand von Gesteinen, Erdformationen und Pflanzen zu lesen und stößt bei ihrer Recherche so auch auf die Ozeanografin Marie Tharp, die nach dem zweiten Weltkrieg eine Stelle an der Columbia University in New York bekam, unter anderem, weil sie ein großes Zeichentalent besaß.

Tharp durfte zwar nie mit auf Schiffsexpeditionen zur Vermessung des Meeresbodens – solche Forschungsreisen sind Frauen zu ihrer Zeit noch verwehrt –, aber ohne sie wäre niemals die "World Ocean Floor Map", die "Weltkarte des Meeresgrundes" entstanden, die 1977 schließlich der österreichische Maler Heinrich C. Berann malte. Zur Vorlage seines Gemäldes dienten ihm die Karten von Marie Tharp, die der National Geographic über Jahre veröffentlichte.

Es entzieht sich nahezu der Vorstellungskraft, dass sich dort unten eine 65.000 Kilometer lange Gebirgskette rund um die Erde zieht, deren Gipfel teils bis zu 2.000 Meter hoch sind. Als wäre es die Nabelschnur von Mutter Erde. Auch die Abbildung von der Weltkarte Beranns im Buch lässt nur die Dimensionen erahnen. Pluchet gelingt es dennoch anschaulich zu machen, dass die Erde, wie wir sie aus Atlanten und von eigenen Reisen und Wanderungen kennen, eine unglaubliche Entstehungsgeschichte hinter sich hat.

Die Alpen, die schon seit Menschengedenken und heute noch wie ein unumstößliches Bollwerk Nord- von Südeuropa trennen, sind nicht viel mehr als Zeitzeugen eines Meeres, dass es nicht mehr gibt. Wind, Regen und steigende Temperaturen verändern sie schleichend, manchmal auch rasend schnell, wenn schmelzende Gletscher Gesteinsmassen mit zu Tal reißen. Zu diesen Veränderungen durch das sich wandelnde Klima wird vor allem im Schneefernerhaus geforscht. Selbst die höchsten Gipfel, die letzten Bastionen, die dem Menschen ewig nicht zugänglich waren, geraten durch Menschenwerk ins Wanken.

Mitten im Berg

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Im letzten Kapitel begibt sich Pluchet in einen Berg hinein. In dem 12 Kilometer langen Fréjus-Tunnel, der Frankreich und Italien miteinander verbindet, liegt eine von vier unterirdischen Forschungsstationen Europas. Im Berg, der sich über der Station 1.700 Meter türmt, ist es warm. Die Forschenden unter der Erde werden mit Höhenluft vom Berggipfel auf 2.936 Metern versorgt. Unten experimentieren sie mit lebenden und nicht mehr lebenden Organismen. Es geht darum herauszufinden, welche Auswirkungen Strahlen auf die Evolution haben und wie am Ende Alles mit Allem zusammenhängt.

In der Wissenschaft sind da immer noch viele Fragen offen, viele Fragen werden auch neu gestellt. Nichts ist in Stein gemeißelt, auch wenn viele Erkenntnisse unumstößlich sind. Gerade deshalb macht dieses Buch Lust auf die Wissenschaft, es lockt, auf Reisen zu gehen und die Welt zu erkunden, die nicht erst in den Bergen beginnt, sondern dort, wo wir leben.

Blandine Pluchet, Die Vermessung der Berge. Eine Wanderung zur Entdeckung der Weltgesetze, Bergwelten Verlag 2023, 216 S., 16 Illustrationen, ISBN-13 9783711200440, 28 €, nominiert als Wissensbuch des Jahres 2023 in der Kategorie Ästhetik für besonders schön gestaltete Bücher