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Am Uniklinikum Mainz wird das Instrument Personalbemessung inzwischen auf 38 Stationen erprobtAndreas Arnold/dpa

Je schlechter die Arbeitsbedingungen, desto mehr Fachkräfte verlassen die ­Pflege. Und je weniger Fachkräfte sich um immer mehr Patient*innen kümmern müssen, desto mehr Stress sind die Beschäftigten wiederum ausgesetzt. Mit der verbindlichen Einführung der Pflegepersonalregelung 2.0 (kurz: PPR 2.0) soll dieser Teufelskreis durchbrochen werden. Und zwar mit Hilfe von bedarfsgerechten Personalvorgaben. Sie richten sich nach dem tatsächlichen Pflegebedarf der Patien­t*innen und der Zeit, die die Beschäftigten für eine gute Versorgung ihrer Patient*innen benötigen.

„Die Einführung der PPR 2.0 ist ein ­echter Wendepunkt“, sagt Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. Die politische Fehlentscheidung der Ökonomisierung im Gesundheitswesen werde damit an einer entscheidenden Stelle korrigiert. Ein Wermutstropfen: Der Zeitplan des Bundesgesundheitsministeriums zur Umsetzung der PPR 2.0 verzögert sich. Losgehen sollte es eigentlich schon jetzt, im Januar 2024.

Bis zu 50 Prozent mehr Personal nötig

Dass die PPR 2.0 funktioniert, beweist sie am Uniklinikum Mainz. Dort wird seit September 2022 das von ver.di, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat entwickelte Instrument zur Personalbemessung erprobt. „Damit sind wir dem Gesetzgeber mindestens ein Jahr voraus,“ sagt Sebastian Tensing, freigestellter Personalrat am Uniklinikum Mainz. „Das Instrument liegt ja schon etwa vier Jahre auf dem Tisch“, ­erklärt der Gesundheits- und Krankenpfleger, der sich auch für den an der Uniklinik Mainz geltenden Tarifvertrag Entlastung eingesetzt hat. In diesem TV-E haben die Tarifvertragsparteien nicht nur Personalschlüssel für die meisten Stationen des Klinikums festgehalten. Der Tarif­vertrag, der im September 2020 in Kraft trat, sieht auch vor, dass die im TV-E festgelegten Personalschlüssel unwirksam werden, sobald ein allgemein anerkanntes Instrument zur Personalbemessung vorliegt.

„Im September 2022 haben wir die PPR 2.0 daher auf vier Modell-Stationen am Uniklinikum Mainz scharf geschaltet“, erklärt Sebastian Tensing. Inzwischen werde das Personalbemessungsinstrument auf 38 Stationen erprobt. Ziel sei es, Erfahrungen mit der betrieblichen Umsetzung der PPR 2.0 zu sammeln und zu überprüfen, wie sich diese auf die Personalausstattung auswirken würde. „Für einige Stationen wäre tatsächlich bis zu 50 Prozent mehr Personal nötig, wenn wir statt der dort gültigen Personalschlüssel die PPR 2.0 vollumfänglich anwenden würden“, sagt Personalrat Tensing. Auch auf allen anderen Modell-Stationen hätte die An­wendung der PPR 2.0 gegenüber den im Tarifvertrag Entlastung geltenden Personalschlüsseln einen Personalzuwachs zur Folge.

Die Erfahrungen der Uniklinik Mainz sind übertragbar. Die Einführung der PPR 2.0 würde voraussichtlich an Krankenhäusern bundesweit zu einer besseren Personalausstattung in der Pflege führen, wenn die bisherigen Personal- ausstattungen auf die verbindlichen

Vorgaben durch die PPR 2.0 angehoben werden. Davon profitieren nicht nur die Beschäftigten, auch die Versorgungsqualität der Patien­t*innen würde steigen. Doch viele Arbeitgeber verweisen auf den Fachkräfte­mangel, zusätzliche Stellen in der Pflege seien nicht einfach zu besetzen.

Hunderttausende Vollzeitstellen

Die Studie „Ich pflege wieder, wenn…“ aus dem Jahr 2022 beweist das Gegenteil. Die Arbeitnehmerkammer Bremen befragte knapp 13.000 ausgestiegene oder Teilzeit-Pflegefachkräfte. Das Ergebnis zeigt: Mindestens 300.000 zusätzliche Vollzeitstellen könnten mit Pflegefachpersonen besetzt werden, die bereit ­wären wieder in den Beruf zurückzukehren oder ihre Arbeitszeit aufzustocken. Allerdings nur, wenn sich die Arbeits­bedingungen in der Pflege erheblich verbessern.

Als wichtigste Voraussetzung für eine Rückkehr bzw. Stundenerhöhung nannten die Befragten neben einer wert­schätzenden Führungskultur, verläss­lichen Arbeitszeiten und einer höheren Bezahlung vor allem den Wunsch, wieder mehr Zeit für die Pflege und ihre Patient*innen zu haben.

Personalrat Sebastian Tensing ist überzeugt, dass die Einführung der PPR 2.0 ein guter Schritt in Richtung einer nachhaltigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege ist. „Mit der PPR 2.0 haben wir dann ein Instrument an der Hand, das Vergleichbarkeit herstellt“, sagt der 42-Jährige. „Alle Krankenhäuser und Kliniken können ihren Personalbedarf nach den gleichen Kriterien ermitteln und ihn objektiv darstellen.“ Die Erfahrungen am Uniklinikum Mainz zeigten, dass das Computer-Programm zur Erfassung des Personalbedarfs einfach an­zuwenden sei. Nach einer etwa drei­wöchigen Eingewöhnung bräuchten die Beschäftigten nur noch wenige Minuten am Tag für die Eingabe aller nötigen Para­meter, sagt der Personalrat.

„Wir sind auf der Zielgeraden“, sagt auch Grit Genster, die den ver.di-Bereich ­Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik leitet. Jetzt müsse die PPR 2.0 nur noch schnell, verbindlich und transparent umgesetzt werden. „Das zeigt Pflegekräften im Krankenhaus eine konkrete Perspektive, wie sich ihre Arbeitsbedingungen verbessern können“, so die Gewerkschafterin. Damit die Einführung gut gelingen kann, müsse die Umsetzung der PPR 2.0 in den Krankenhäusern nun technisch, personell und organisatorisch vorbereitet werden. Von der Politik fordert ver.di, in der entsprechenden Rechtsverordnung zur PPR 2.0 festzuhalten, dass Auszubildende, Studierende und Pflegehilfskräfte keine Pflegefachkräfte er­setzen dürfen, um den mit der PPR 2.0 ­erhobenen Personalbedarf zu erfüllen.

Parallel zur Einführung der PPR 2.0 wird wissenschaftlich schon an der Weiterentwicklung der Personalbemessung in der Krankenhauspflege gearbeitet. Die Ergebnisse sollen Ende 2024 vorgelegt ­werden. Doch dabei soll es nicht bleiben. Denn auch für alle anderen Beschäftigtengruppen im Krankenhaus braucht es in Zukunft bedarfsgerechte Personalvorgaben und eine volle Refinanzierung der zugehörigen Kosten.

Menschen in den Mittelpunkt rücken

„Um die Ökonomisierung im Gesundheitssystem weiter zurückzudrängen und die Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen, müssen wir als Beschäftigte den Druck auf die Politik aufrechter­halten“, sagt Sebastian Tensing deshalb. Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen und mit Unterstützung von ver.di wird er weiter für einen Kulturwandel im Gesundheitswesen voranschreiten.

Editorial Einschneidend

Es ist noch nicht lange her, da standen abends überall in Deutschland Menschen auf ihren Balkonen und klatschten. Corona hielt das Land in Bann, in den Krankenhäusern war Land unter. Ganze Stationen mussten für schwer Erkrankte freigemacht werden, Ärzte und Pflegekräfte gingen jeden Tag über ihre Grenzen. Es wurde ihnen mit Applaus dafür gedankt. Doch permanent über-

fordert sind die Beschäftigten schon sehr lange. Um dass zu ändern, auch dafür gibt es schon sehr lange Vorschläge und Konzepte. Warum die nicht umgesetzt werden und immer mehr Krankenhäuser in ihrer Existenz bedroht sind, darum geht es im Gesundheitsspezial. Und um die Berufsgenossenschaft, die hilft, wenn ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit das Leben einschneidend verändert. pewe