ver.di publik : Vermittlungsvorrang hört sich doch erstmal gut an. Was ist der Haken?

Heinz Georg von Wensiersky: Der Haken daran ist, dass die Praxis der letzten 20 Jahre in den Jobcentern dazu geführt hat, dass Erwerbslose in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden. Hauptsache sie sind aus der Statistik. Dies ist nicht nachhaltig gedacht.

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Kannst Du ein Beispiel dafür nennen?

Also ich bin selbst Hartz-IV-Bezieher gewesen. Ich hatte eine Qualifikation als Maschinenbautechniker und Technikerbetriebswirt. Angeboten wurde mir vom Jobcenter immer Zeitarbeit, oft befristet und nicht meiner Qualifikation entsprechend. In der Regel ist 90 Prozent dessen, was Jobcenter haben, Zeitarbeit.

Wenn Erwerbslose nach einem Jahr aus dem Arbeitslosengeld kommen, beziehen sie Bürgergeld bzw. früher Hartz-IV. Dann können die Arbeitgeber sie für jede Arbeit einsetzen. Das heißt, die Ausbildung und das, was du dir an Qualifikationen erarbeitet hast, zählt nicht mehr.

Hätte es denn für Dich Möglichkeiten gegeben, als Maschinenbautechniker zu arbeiten?

Rein theoretisch ja. Ich habe mich seinerzeit bundesweit beworben und habe aufgrund meines Alters, das behaupte ich einfach mal so – das wird ja kein Arbeitgeber zugeben –, Absagen bekommen. Ich war zudem überqualifiziert und zu teuer.

In Deutschland fehlen Fachkräfte. Wäre es nicht sinnvoller, Erwerbslose entsprechend zu qualifizieren?

Es wird immer behauptet, dass 60 bis 70 Prozent derjenigen, die im Bürgergeld-System sind, keine Ausbildung haben, keinen Schulabschluss. Da könnte man rangehen mit Weiterbildung, ergänzenden Maßnahmen und was weiß ich, was es da für Möglichkeiten gibt im Sozialgesetzbuch (SGB) III. Aber nein, das kostet ja richtig Geld. Wahrscheinlich ist auch die Arbeitgeberseite dagegen, weil sie ja dann vielleicht die Weiterbildung nach dem SGB III weiter mitfinanzieren müsste.

Ist das nicht ein Widerspruch?

Ja, aber dann wären die Arbeitgeber ja auch bemüht, am Arbeitsmarkt auszubilden. Das tun sie ja auch nicht. Sie jammern nur und wollen Erleichterungen haben von der Politik. Deutschland ist auch ein Einwanderungsland, aber weite Teile der Politik und der Bevölkerung wehren sich gegen Migration, wenn sie nicht eine bestimmte Qualifikation hat. Das fängt beim Doktor oder Ingenieur an. Alles, was da drunter ist, wollen wir nicht haben.

Seit der Umstellung auf das Bürgergeld war die Qualifizierung gleichberechtigt mit der Vermittlung. Was hat das gebracht?

Es gibt entsprechende Studien vom IAB, dem Institut für Arbeitsmarkt – und Berufsforschung der Bundesagentur. Darin wird nachgewiesen, dass viele Menschen nachhaltig in dem Job geblieben sind, in den sie nach einer Qualifizierung vermittelt worden sind.

"Viele Menschen sind nachhaltig in dem Job geblieben, in den sie nach einer Qualifizierung vermittelt worden sind. "

Aber Du hast ja Absagen bekommen mit der Begründung, du seist überqualifiziert.

Das sind die Vorurteile in den Personalabteilungen der Unternehmen. Entweder bist du zu alt oder wenn du in einem Alter zwischen 45 und 50 bist, sagt der Personaler glattweg, sie könnten ja krank werden und dann haben wir nichts von ihnen. Oder aber du bist zu teuer. Oder überqualifiziert. Das ist das Misstrauen der Arbeit gegenüber Arbeitslosen, vor allen Dingen, wenn sie aus dem Bürgergeld kommen.

Warum will die Politik zum Vermittlungsvorrang zurückkehren?

Das ist eine Idee der CDU. Ich verstehe nicht, warum die SPD hier ein positives Programm verrät. Die CDU will dem Volk sagen, dass sie durchgreift. Dazu kommt eine Looser-Diskussion, die auch in den Medien stattfindet. Da heißt es, diese Faulen, die sich in der sozialen Hängematte ausruhen, die treiben wir jetzt in Arbeit.

Aber viele Menschen im Bürgergeld können doch überhaupt nicht arbeite n

Richtig. Das ist nur ein ganz kleiner Teil, der für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Was wir hier auch sehen, ist eine Spaltung der Gesellschaft. Hier wird emotional und nicht nach Fakten diskutiert. Du kannst Politikern, Arbeitgebern und auch bestimmten Medien mit Fakten kommen – sie ignorieren sie einfach, weil sie ein anderes politisches Interesse haben. Das ist genauso wie bei den Sanktionen hinsichtlich der Totalverweigerer. Totalverweigerer sind weniger als ein Prozent derjenigen, die Leistungen beziehen. Aber damit werden 99 Prozent derer, die Leistungen beziehen, in den Schmutz gezogen. Da kann von Umgang mit Respekt oder auf Augenhöhe keine Rede sein.

Das Bürgergeld soll künftig Grundsicherung heißen. Was können die Gesetzesänderungen für Folgen haben?

Wenn der Gesetzgeber Gesetze formuliert, die interpretierbar sind vor Ort, wenn es parallel dazu Benchmarking gibt in den einzelnen Agenturen, wer denn der Beste ist, wer Kosten spart und wer mehr Leute in Vermittlung bringt, dann passiert etwas im Kopf derjenigen, die da entscheiden. Ich bin an meinem Wohnort auch im Beirat eines Jobcenters. Es gibt nur ganz wenige Sachbearbeiter bzw. Fallmanager, die diesem System Widerstand leisten, indem sie ordentlich arbeiten, im Sinne der Versicherten bzw. der Leistungsempfänger*innen.

"Die Arbeitgeber jammern nur und wollen Erleichterungen haben von der Politik."

Wenn die Pläne, die jetzt im Koalitionsvertrag stehen, umgesetzt werden, drohen wieder Sanktionen. Steht das nicht im Widerspruch zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nachdem Sanktionen auf Null nicht zulässig sind?

Es gibt einen Absatz in diesem Urteil, der es zulässt, auch hundertprozentige Sanktionen auszusprechen, wenn keine Mitwirkung bei der Leistungserbringung erfolgt. Das ist nur nicht praktiziert worden, weil es sehr viel Nachweisbarkeit braucht, damit die Entscheidung auch rechtlich standhält.

Aber werden die Hürden nicht auch in Zukunft hoch bleiben bis zur Totalsanktion?

Ja, das werden sie. Aber wir haben ja auch das Phänomen in der Politik, dass Gesetze fürs Volk gemacht werden. Das ist zumindest meine Interpretation. So kann die Politik sagen, wir haben hier ein Sanktionsmoratorium, das härter ist als das, was vorher war. Ob das dann hinterher in der Umsetzung funktioniert hat, spielt keine Rolle.

Die Pläne von Union und SPD stehen im Koalitionsvertrag. Wie wird ver.di die Umsetzung begleiten?

Wir beobachten das und mischen uns ein, nicht nur als Erwerbslose in ver.di, sondern als ganze Organisation. Sie muss da zusammenstehen, vom Vorsitzenden bis zu dem Ressort, das für die Beschäftigten im Jobcenter zuständig ist, und dem Ressort Sozialpolitik, von der Bundesebene bis in die Bezirke. Anfang kommenden Jahres beginnen die Organisationswahlen in ver.di. Die werden wir nutzen, um unsere Position zu dem Thema in Anträgen in die politische Meinungsbildung bei ver.di bis zum Bundeskongress im Herbst 2027 zu bringen.

Interview: Heike Langenberg

erwerbslose.verdi.de

Der Vermittlungsvorrang

Erwerbslose sollen schnell wieder in Arbeit gebracht werden. Beim Vermittlungsvorrang hat die Vermittlung in irgendeinen Job, auch Zeitarbeit oder andere prekäre Arbeit unterhalb der Qualifikation der Erwerbslosen, Vorrang vor der Qualifizierung für eine höherwertige Tätigkeit.

Mit der Einführung des Bürgergelds wurde der Vermittlungsvorrang abgeschafft. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit schrieb schon 2023 in einer Analyse, dass "die Teilnahme an einer geförderten beruflichen Weiterbildung die Beschäftigungschancen von (ehemaligen) Arbeitslosengeld-II-Beziehenden langfristig verbessert und zu stabileren Erwerbsintegrationen führt". Es sieht in der Qualifizierung Erwerbsloser auch einen Beitrag zur Deckung des Fachkräftebedarfs.

Diskutiert wird das Thema, weil Union und SPD im Koalitionsvertrag folgendes vereinbart haben: "Für die Menschen, die arbeiten können, soll der Vermittlungsvorrang gelten. Diese Menschen müssen schnellstmöglich in Arbeit vermittelt werden." Bei Umsetzung dieser Vereinbarung würde man zu alten Maßnahmen zurückkehren, auch wenn die neuen nachweislich als sinnvoller bewertet werden.