Ausgabe 10/2007
Schwerbehindert und selbstständig
Von Barbara Kerneck |Ein Berliner Verein hat schon 94 Menschen mit Handicap unterstützt, ihr eigener Chef zu werden
Von Barbara Kerneck
Logopädin Karin Marsollek hat nach zwei Jahren Zwangspause wieder Kundschaft
Der Elektriker Dietmar Schröder verliert zunehmend sein Augenlicht. Dennoch übt der 58-Jährige nach wie vor seinen Beruf aus. Das kann er nur, weil er sich selbständig gemacht hat und zwei Angestellte beschäftigt: Ihre Hände realisieren die von ihm entworfenen Schaltkreise.
Über 15 Jahre hatte Dietmar Schröder in der Elektroindustrie gearbeitet, zuletzt als Leiter einer Ausbildungswerkstatt. "Und wenn die Steckdose nun schief sitzt?", musste er sich gegen Ende seines Angestelltendaseins häufig fragen. "Mich plagte die Angst, als gescheitert dazustehen", erinnert er sich. Ein Jahr lang war er arbeitslos, dann eröffnete er 2005 seinen kleinen Betrieb "Elektro-Schröder". Der residiert in Berlin-Neukölln in einer Ladenwohnung und bietet Privat- und Gewerbekunden die Wartung und Planung von Elektroanlagen an.
Geholfen bei seinem Schritt zurück ins Licht haben dem Handwerker, der sich seit 30 Jahren auch gewerkschaftlich engagiert, viele befreundete Kollegen. Entscheidend war vor allem aber auch der Kontakt zum Verein Enter-Ability, der arbeitslosen Schwerbehinderten bei der Existenzgründung hilft.
"In Ämtern gibt es Leute, die glauben, dass Schwerbehinderte den Belastungen einer beruflichen Selbstständigkeit nicht gewachsen sind. Unterstützung wird ihnen deshalb oft versagt", berichtet Manfred Radermacher, einer der Mitbegründer des Modellprojekts. Auch viele Banken mauern. Deshalb bietet EnterAbility neben Beratung und Trainingskursen für angehende Selbstständige auch Finanzvermittlung an. Die Nachfrage ist überwältigend. Schon 94 Menschen mit Schwerbehindertenausweis wurden von dem seit 2004 in Berlin tätigen Projekt begleitet. "Für viele, die zu uns kommen, ist Selbständigkeit die einzige Möglichkeit, sich effektive Arbeitsbedingungen zu verschaffen", weiß Radermacher. Und fast keiner, der den Schritt gewagt hat, ist bisher pleite gegangen.
Konflikttraining und Finanzberatung im Angebot
Dietmar Schröder ist froh, dass er sein eigener Herr ist, auch wenn er heute deutlich weniger verdient als früher. Doch anderes belastet ihn mehr: "Das Schlimmste ist, wenn sich Aufträge überlappen und ich einen Kunden anrufen muss: Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir bei ihnen später anfangen?" Immerhin hat ihn das Konflikttraining bei EnterAbility auch auf solche Situationen vorbereitet.
Zwei U-Bahnstationen von Schröders Elektrobetrieb entfernt hat Karin Marsollek eine Praxis für Logopädie eröffnet. Die 54-Jährige strahlt eine tiefe Ruhe aus - gewiss ein Labsal für die sprachgestörten Kinder und alten Menschen, die sie behandelt. Doch 2003 war selbst diese geduldige Frau mit ihren Nerven am Ende. Durch eine angeborenen Gewebsdefekt in ihren Hüftgelenken litt sie unerträgliche Schmerzen; künstliche Gelenke mussten eingesetzt werden. Zwei Jahre Zwangspause und der Verlust aller beruflichen Beziehungen folgten. Eine Beamtin von der Integrationsstelle für Behinderte schickte die bis dahin stets angestellte Frau zu EnterAbility. Gemeinsam erarbeitete man einen Businessplan und bald darauf stattete Karin Marsollek einem Großteil der Ärzte im Kreuzberger Kiez einen Vorstellungsbesuch ab. Ihre langjährige Berufserfahrung überzeugte: Ihr Kundenstamm wuchs anschließend so schnell, dass sie heute von morgens bis abends beschäftigt ist.
EnterAbility unterstützt nur aussichtsreiche Vorhaben
Als könne sie ihr Glück noch nicht fassen, blickt sich die Logopädin in ihrem Arbeitsraum um: naturweiß und orange gestrichen, überall steht Holzspielzeug. Den höhenverstellbaren Schreibtisch und den Arbeitsstuhl spendierte ihr das Integrationsamt. Nur nachts liegt sie manchmal wach und überlegt: "Ein künstliches Hüftgelenk hält zehn bis 15 Jahre. Wenn ich Pech habe, erwischt mich der Verschleiß noch während meiner Berufstätigkeit." Doch schnell wischt sie die trüben Gedanken beiseite: "Die Selbstständigkeit ist viel zu schön, um sich den ganzen Tag Sorgen zu machen."
Konflikterprobt müssen nicht nur die behinderten Gründer sein, sondern auch die vier Mitglieder des Enter-Ability-Teams. "Über zwei Dritteln der Leute, die zu uns kommen, müssen wir von ihrer Gründungsidee abraten", sagt Radermacher. Ist aber einmal der entscheidende Schritt gewagt, dann lässt die Initiative den Gründer auch bei späteren Schwierigkeiten nicht im Stich.
Bei EnterAbility bekommen die Klienten Beratungen und Kursangebote, die angehende Selbständige auch anderswo erhalten. Auch über Stiftungen, Fördermittel und Integrationsämter wissen die Mitarbeiter Bescheid, und bei Bedarf schaltet sich zum Beispiel auch ein Gebärdensprachendolmetscher ein. Doch das Team müsse sich vor allem gut mit Existenzgründungen auskennen und weniger mit Behinderungen, so Radermacher.
Schmunzelnd fügt er hinzu: "Mein eines Bein ist kürzer als das andere und mit einem Auge kann ich kaum mehr sehen. Und dann gibt es Menschen, bei denen funktionieren alle Glieder und Sinne perfekt, dafür lähmt sie ein Kindheitstrauma. Eigentlich sind wir fast alle behindert, nur die wenigsten haben es schwarz auf weiß."
"Die Selbständigkeit ist viel zu schön um sich den ganzen Tag Sorgen zu machen."