Ausgabe 04/2008
Der Rückhaltlose
"Da bin ich noch, mein Land geht in den Westen..."
Über einem Stehpult eine Fotografie vom deklamierenden Lenin. "Das Bild, aus dem die Stalinisten später den Trotzki rausschnitten", sagt Volker Braun. Bei ihm steht Trotzki noch neben Lenin. Über einem Arbeitsschrank eine Grafik von Wilhelm Rudolph. Der schnitt Bilder vom zerbombten Dresden und seinen Toten ins Holz. Volker Braun, Jahrgang 1939, stammt aus Dresden, sein Vater Erich kam am Ende des Zweiten Weltkrieges um, die verwitwete Mutter zog ihre fünf Jungs unter großen Entbehrungen auf. Drei Schreibtische voller Papiere, daneben ein Sessel, in der Ecke ein kleines Sofa. Ansonsten Bücher. Bücher, alle in solide getischlerten Regalen. Das schmale Insel-Bändchen Das Mittagsmahl, für das Volker Braun am 23. April den ver.di-Literaturpreis bekommt, entdeckt man beim zweiten Hinsehen, es steht angelehnt an die umfangreiche Werkausgabe des Mitteldeutschen Verlages.
Das Wirklichgewollte
Im Das Mittagsmahl wird von der Ehe seiner Eltern erzählt, die nur so lange wie das Nazi-Reich dauern durfte. Es sei ein glückliches, furchtbares Leben gewesen, erkennt die Mutter darin rückblickend. Volker Braun sagt, dass nichts an seinem Erzählen erfunden sei. So hätten ihn auch seine Brüder einer nach dem anderen umarmt, als sie in die Nähe des Teutoburger Waldes reisten, um den Ort zu sehen, wo ihr Vater als Hitlers Volkssturm-Aufgebot sein Leben lassen musste. Für einen Moment wirkt Volker Braun gerührt. In solchen Augenblicken lächelt er in sich hinein, zugleich korrigiert er den Sitz der Brille, als wolle er die Regung verbergen. Etwas von seinem Gefühlshaushalt preiszugeben, ist die Ausnahme.
Volker Braun formuliert an der Gegenwart. Wenn er sich erinnert, dann grundsätzlich nie, um im Vergangenen zu versinken. Ihm geht es um das Spannungsfeld der Realität zum Wirklichgewollten. Das Wirklichgewollte ist der Titel eines anderen Prosabandes, in dem von älteren, an Idealen reichen Menschen die Rede ist, Ideale, die sie jedoch nicht weitergeben können.
Volker Braun gibt äußerst ungern Interviews, sitzt ungern auf Podien. Und dennoch ist er, schreibend seit 40 Jahren, eine öffentliche Person. Sein Posten als Sektionschef der Autoren in der Berliner Akademie der Künste behagt ihm nicht, aber er wird seiner Wahlperiode genügen. Dabei: Seine Redlichkeit tut den Schriftstellerinnen und Schriftstellern gut. Auch im November 1989 war ihm ein Gedicht wichtiger und natürlich der Aufruf "Für unser Land", als auf dem Berliner Alexanderplatz große Reden zu halten, die heute niemand mehr kennt: "Da bin ich noch, mein Land geht in den Westen..." Diese Zeile ist schlicht zur Wende-Metapher geworden.
Einmal abgesehen von einer kurzen Spanne nach dem Zusammenbruch der DDR, in der zu bangen war, ob er seine Distanz zur Kapitalisierung in der Heimat würde produktiv ma- chen können, zählt Volker Braun zu den gegenwartsbezogensten Autoren Deutschlands. Er ist derart der Gegenwart und der literarischen Genauigkeit verpflichtet, dass er wegen seiner poetischen Analysen, Projektionen und Utopien seit dem furchterregenden XI. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1966 in seiner Arbeit behindert, drangsaliert und bespitzelt wurde. Dennoch gelang es ihm immer wieder, die Kultur-Bürokraten und Machthaber zu überlisten. Angefangen bei Theaterstücken über Drecksarbeit und entwürdigende Produktionsverhältnisse wie Kipper Paule Bauch, für deren Abdruck in der FDJ-Zeitung Forum Rudolf Bahro seinen Posten als Redakteur verlor, bis hin zur Übergangsgesellschaft (1987), worin es heißt: "Die Revolution kann nicht als Diktatur ans Ziel kommen." Wie brisant Brauns Arbeit war, zeigt die "produktive, subversive Freundschaft", die ihn mit dem Wissenschaftler und linken Dissidenten Rudolf Bahro verband. Bahro gab Volker Braun Kapitel für Kapitel seines Buches Die Alternative zum Lesen, die Kritik am real existierenden Sozialismus schlechthin, in den Westen geschmuggelt und dort veröffentlicht. Zugleich war Bahro der Ratgeber für Volker Brauns Stück Der große Frieden - ein philosophisches Volkstheater. Rausschmiss, Knast, Weggang in den Westen, Dissens: Nichts von dem konnte diese Freundschaft gefährden. Das charakterisiert auch Volker Braun.
Unverstellte Sprache
Nichts verlangte nach mehr Raison, als die Lehrsätze der Mächtigen an der Wirklichkeit zu messen, sie zu durchschauen oder ihnen sogar voraus zu sein. Durch Anstellungen an Theatern war der Dramatiker, der Lyriker und Prosa-Autor Volker Braun materiell einigermaßen abgesichert. Viele seiner Werke lagen jahrelang in der Schublade, bis sie veröffentlicht werden durften. Er liebe das Wort "rückhaltlos", erklärte er mir in einem Gespräch vor 20 Jahren seine Forderung nach der Unverstelltheit und Abneigung gegen die Metasprache in der Kunst. Damals schenkte er mir das Typoskript für das Gedicht Tagtraum - ein Aufenthalt im Niemandsland zwischen den beiden deutschen Staaten. Es endet: "Ich muss auf eine Seite, muss es. / Aber ich ahne nur meine Worte."
Volker Braun hat sich seine Posi- tion neu erobern können. Und er ist der große Skeptiker geblieben. Mit Utopien geht er, der auf einen "dritten Weg" jenseits von DDR und BRD hoffte, vorsichtiger um. Er sagt heute dazu, Utopien seien eine Frage des Standorts, der Bedürfnisse. "Das Grundverfahren von Literatur ist etwas anderes: Sie schaut in die Sache hinein und lebt im Widerspruch zum verquollenen Selbstbewusstsein einer Sozietät." Er sagt es mit spürbarer Lust am Formulieren. Und allein für diesen Satz hätte Volker Braun den Büchner-Preis verdient. Aber der wurde ihm ja bereits im Jahr 2000 verliehen.
Volker Braun
bekam nach dem Abitur keinen Studienplatz, arbeitete in einer Druckerei in Dresden, im Tiefbau des Kombinats "Schwarze Pumpe", später im Tagebau. Studierte doch noch Philosophie. War Dramaturg am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater Berlin. Nach der Wende wurde aus dem "hellsichtigen DDR-Dichter ein Kritiker der neuen Illusionen, der sich nicht in der schönen neuen Welt einrichten wollte", wie es beim Kritikerverband heißt. Braun lebt in Berlin.