Gerade mal zwei Anlaufstellen für Mediensüchtige gibt es in Deutschland. Dabei nehmen die Folgen der PC- und Internet-Spielsucht vor allem bei Jugendlichen immer dramatischere Formen an

Von Thomas Klatt

Nennen wir ihn Ingo, seinen Stimmbruch hat er längst hinter sich, der erste Bartwuchs ist unverkennbar. Er ist durchschnittlich intelligent und besitzt eine höhere Schulbildung. Er kennt sich mit Computern aus, kann sie nicht nur bedienen, sondern auch aufschrauben, modifizieren oder gar optimieren. Ingo war noch ein Grundschulkind, als ihm seine Eltern den ersten Gameboy und eine Playstation schenkten. Papa und Mama selbst spielten damals stundenlang mit Super-Mario. Das sollte ihr Kind auch haben dürfen, zumal Pädagogen und Politiker zum Kauf ermunterten, die Spiele würden schließlich Fingerfertigkeit und Reaktionsfähigkeit des Heranwachsenden fördern.

Alsbald stand auch der erste PC im Kinderzimmer. Und irgendwann kam Ingo aus seinem Kinderzimmer kaum noch heraus. "In der Schule wurde ich immer gemobbt und war der Klassenarsch. Da hab' ich mich halt so ein bisschen in die Spiele geflüchtet", bekennt Ingo im Nachhinein.

Riesiger Beratungsbedarf

Die interaktiven Medien gehören für Kinder heute zum Alltag, und längst nicht alle zieht die Technik dermaßen in Bann, dass sich bei ihnen ein Suchtverhalten ausprägt. Wer jedoch ins Berliner Café Beispiellos kommt, der leidet wie Ingo unter einem exzessiven Medienverhalten. "Dabei schaffen es nur wenige, dauerhaft je einmal in der Woche zur Gesprächsgruppe zu kommen und sich ihre Sucht einzugestehen", sagt der Sozialpädagoge Jannis Wlachojiannis, der die Gruppe anleitet. Der Beratungsbedarf ist riesig, die Anfragen übersteigen die Kapazitäten der Caritas-Stelle bei weitem.

Deutschlandweit gibt es bislang nur diese einzige Gesprächsgruppe für Mediensüchtige. In Mainz eröffnet jetzt erst die bundesweit erste medizinische Ambulanz zur Behandlung von Computerspiel- und Internetsucht. In Sachen Mediensucht ist Deutschland noch ein Entwicklungsland. Es liegen bislang noch nicht einmal fundierte wissenschaftliche epidemiologische Daten zur Abhängigkeit von PC, Handy oder Fernsehen vor. Erste stichprobenartige Befragungen etwa an der Berliner Charité und dem Universitätsklinikum Mainz lassen aber ein pathologisches Computerspiel-Verhalten bei bis zu zwölf Prozent der Jugendlichen befürchten. Die Elterninitiative rollenspielsucht.de schätzt die Zahl der Mediensüchtigen in Deutschland auf etwa 1,5 Millionen. "Wir haben nicht einmal eine Klassifikation, die Mediensucht ist nicht als diagnostisches Störungsbild anerkannt, und somit die Therapie auch nicht über das Solidarsystem finanzierbar", gesteht die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Sabine Bätzing ein.

Leichter als Erwachsenwerden

Suchtexperten fordern längst eine kritischere Haltung gegenüber den neuen Medien. Anders als bei vielen stofflichen Süchten werde etwa die PC-Spielsucht viel zu selten erkannt oder aber leichter toleriert, weil es für Außenstehende nach Bildung und Vorbereitung auf den modernen Arbeitsmarkt aussieht. Zahlreiche Eltern wollten in der Regel auch gar nicht so genau wissen, was ihr Filius im eigenen Zimmer macht, wenn er sich nur ruhig verhält.

Viele Mediensüchtige fühlen sich in der weltweiten Gaming community sprichwörtlich zu Hause und permanent zum Spiel verpflichtet. Wenn die Mitspieler auf der anderen Seite der Erdkugel Verstärkung brauchen, dann muss nachts der Wecker gestellt werden, um einer Verabredung mit der Gilde nachzukommen.

"Wenn der Junge bisher ganz freundlich an seiner Familie interessiert war und plötzlich ganz unruhig wird und nicht schnell genug in seine Kinderzimmer-Spielhöhle zurück kann, dann ist da ein seelischer Zerfallsprozess im Gange", warnt der Psychiater Wolfgang Bergmann, der sich als einer von wenigen auf die Therapie von Mediensüchtigen spezialisiert hat. Die Leichtigkeit, virtuelle Probleme lösen zu können, ist um einiges attraktiver als die Notwendigkeit des realen Erwachsenwerdens.

"Diese Jugendlichen essen nur weiche weiße Dinge, also alles, was an frühkindliche Ernährung erinnert, was man so einschlucken kann, was nicht widerständig ist. Es besteht eine tiefe Bindung an Mama. Und meist will auch die Mutter nicht loslassen", weiß Bergmann.

Eine echte Freundin

Je stärker die frühkindlichen Bindungsstörungen sind, umso größer die Dispositionen zur späteren Computer-Sucht. Wichtig sei es, so der Psychiater, nicht einfach Verbote auszusprechen, sondern die Süchtigen in ihrem Tun und Können erst einmal ernst zu nehmen. Den PC einfach wegzusperren oder andere Sanktionen zu erteilen, kann zu massiven Ängsten, Aggressionen bis hin zu Suizidversuchen führen. Bei Suchtsymptomen sollten Eltern auf jeden Fall professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, denn hinter der Mediensucht steckt in der Regel eine grundlegende Persönlichkeitsstörung, die therapiert werden muss.

Aber auch schon die Gesprächsgruppe im Berliner Café Beispiellos scheint erste Ausstiegsmöglichkeiten bieten zu können. "Ich will eigentlich nur die Anerkennung in der Schule und endlich eine echte Freundin", klagt Ingo. Viele haben zwar im Internet schon alle Formen und Abarten von Sexualität gesehen, aber noch niemals ein Mädchen geküsst. In der Gruppe werden Auswege gesucht. Manche erlegen sich ein striktes Zeit-Management auf und beschränken das Spiel selbstständig auf wenige Stunden in der Woche, andere fangen mit Tagebuchschreiben an. Die Gruppe trifft sich zu Outdoor-Freizeitaktivitäten. "Plötzlich hat einer zum ersten Mal wirklich eine Freundin, und quasi von einem Tag auf den anderen hat er keine Zeit mehr für den PC", berichtet Gruppenleiter Wlachojiannis.

Vielleicht würden wesentlich mehr Menschen ihren Medienkonsum einschätzen und auf ein vernünftiges Maß reduzieren können, wenn ihnen Eltern, Freunde und die Umwelt Alternativen anbieten würden.

Auf www.onlinesucht.de und www.rollenspielsucht.de können sich Interessierte und Betroffene ausführlich informieren. Hilfe für Abhängige und ihre Angehörigen bietet zudem die Suchtforschungsgruppe der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Mo-Fr 12 bis 17 Uhr unter der Telefonnummer 01801/529529. Bei der Caritas Berlin, Tel. 030/66633-466, können Termine für Erstgespräche vereinbart werden. Kontakt: Jannis Wlachojiannis. Nähere Informationen dazu gibts unter www.dicvberlin.caritas.de