Auf Wohlwollen angewiesen

Wegen der Olympischen Spiele im August schaut die Welt auf China. Doch nicht nur aus diesem Grund verbessern sich zur Zeit dort die Arbeitsbedingungen

Sergio Grassi lebt in Peking und arbeitet dort als Experte für Wirtschaft und Arbeitsbeziehungen. Bei der Veranstaltung "Olympialand China 2008 - Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbeziehungen" der Hans-Böckler-Stiftung hat er einen Vortrag über chinesische Gewerkschaften gehalten

ver.di PUBLIK | Sportschuhe und Olympiamaskottchen werden teilweise unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen hergestellt - zum Großteil in China. Haben die internationalen Kampagnen im Vorfeld der Olympischen Spiele den Arbeitern dort genützt?

GRASSI | Es spricht vieles dafür, dass sich die Arbeitsbedingungen in China in vielen Bereichen gegenwärtig verbessern. Das hat nicht in erster Linie mit der Olympiade zu tun. Vielmehr hat die chinesische Regierung mehrere arbeitsrechtlich relevante Gesetze verabschiedet, die in diesem Jahr in Kraft getreten sind. Auch ein Gesetz zur Sozialversicherung ist in Vorbereitung. Die Olympischen Spiele und die internationale Aufmerksamkeit für das Land verstärken diesen Trend sicherlich, aber die Ursachen liegen woanders.

ver.di PUBLIK | Was regeln die Gesetze?

GRASSI | Jeder Arbeiter hat jetzt zum Beispiel das Recht auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag - sonst gilt er nach einem Jahr als unbefristet angestellt. Nach dem Auslaufen von befristeten Verträgen gibt es eine Abfindung, und Leiharbeiter bekommen gleich viel bezahlt wie die anderen Beschäftigten. Bei Verstößen drohen den Arbeitgebern deutliche Strafen. Außerdem dürfen Arbeitgeber nicht den Personalausweis ihrer Beschäftigten behalten oder eine Kaution verlangen.

ver.di PUBLIK | Was motiviert die chinesische Regierung, jetzt solche Gesetze zu erlassen?

GRASSI | Der internationale Druck ist ein Teil. Für wesentlich entscheidender aber halte ich den Druck von innen. Politische Reformen folgen in China in der Regel als Reaktion auf Konflikte. Letztes Jahr meldete die offizielle chinesische Presse, dass Arbeitsauseinandersetzungen zur größten Gefahr für die Stabilität des Landes geworden sind. Von 87000 Vorfällen mit Massencharakter war die Rede; wir würden von Streiks sprechen. Die sind in der Regel spontan und nicht von der Gewerkschaft organisiert. Die Regierung setzt auf Beruhigung. Ihr erklärtes Leitbild ist das der "harmonischen Gesellschaft". Natürlich muss man darauf achten, inwieweit die Gesetze nun auch tatsächlich umgesetzt werden.

In China ist noch der Weg das Ziel

ver.di PUBLIK | In China gibt es keine freien Gewerkschaften. Gewerkschaftsvertreter werden normalerweise von der Betriebsleitung eingesetzt. Ist mit solchen Leuten überhaupt eine internationale Zusammenarbeit sinnvoll?

GRASSI | Was gibt es für Alternativen? Man könnte warten, bis es nach unseren Maßstäben freie Gewerkschaften in China gibt. Das aber würde ein völlig neues politisches System voraussetzen - was derzeit nicht absehbar ist. Deshalb wird es Veränderungen erst einmal nur im bestehenden System geben können. Meiner Meinung nach sollten die deutschen Gewerkschaften daher ein großes Interesse daran haben, die Transformationen der chinesischen Gewerkschaften zu unterstützen.

ver.di PUBLIK | Aber können denn Funktionäre, die von der Geschäftsführung ausgesucht wurden, überhaupt die Interessen der Beschäftigten vertreten?

GRASSI | Das Grundproblem chinesischer Gewerkschafter ist, dass sie auf das Wohlwollen der Betriebsführung angewiesen sind. Von dort beziehen sie nicht nur ihr Gehalt. Sie genießen auch keinen besonderen Kündigungsschutz. Trotzdem macht eine pauschale Bewertung der chinesischen Gewerkschaften keinen Sinn. Man sollte schauen, was sie jeweils konkret auf lokaler Ebene oder im Betrieb tun. Die Vielfalt der Arbeitsbedingungen in China ist immens und unter dem Dach des allchinesischen Gewerkschaftsverbands finden extrem unterschiedliche Dinge statt. Die chinesischen Gewerkschaften haben ihre Wurzeln zwar in der Planwirtschaft, befinden sich aber seit etwa 15 Jahren in einem grundlegenden Umwälzungsprozess.

ver.di PUBLIK | Wie weit reicht das Spektrum heute?

GRASSI | Der Arbeitsmarkt ist extrem ausdifferenziert, und das Land hat die Dimensionen eines Kontinents. Sicher lassen sich ohne Probleme 1000 Betriebe mit katastrophalen Arbeitsbedingungen bis hin zur Sklavenarbeit anführen. Man wird aber ebenso 1000 Beispiele finden, die optimistisch stimmen.

ver.di PUBLIK | Woran liegt das jeweils?

GRASSI | Schlecht sieht es meist in Betrieben mit kaum ausgebildetem Personal aus, das leicht zu ersetzen ist. Dagegen gibt es besonders an der Ostküste viele Unternehmen mit hochqualifizierten Belegschaften, wo schon sehr weit entwickelte Interessenvertretungen in den Betrieben existieren. In diesen Bereichen herrscht häufig Facharbeitermangel und die Unternehmensführungen müssen sich sehr bemühen, die Fluktuation einzudämmen. Sie halten nicht nur alle arbeitsrechtlichen Standards ein und legen dies auch in den Arbeitsverträgen fest, sondern organisieren über die Gewerkschaften auch ausgiebige Freizeitveranstaltungen und verteilen Bonuszahlungen.

INTERVIEW: ANNETTE JENSEN