Der Europäische Gerichtshof beschneidet abermals nationale Schutz- und Arbeitsrechte. ver.di vermisst die soziale Dimension der EU

Wie tief noch?

VON MARIA KNIESBURGES

Zum vierten Mal binnen eines halben Jahres hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) unternehmerische Freiheiten über nationale Schutz- und Arbeitsrechte gestellt. Geklagt hatte die Europäische Kommission gegen das Großherzogtum Luxemburg. Das hatte auf seinem Recht bestanden, Unternehmen aus dem EU-Ausland, die in Luxemburg tätig werden, auf die Einhaltung des luxemburgischen Arbeitsrechts und der landesüblichen Tarife zu verpflichten. Das jedoch, so entschieden die Richter, verstoße gegen EU-Recht, nämlich die EU-Entsenderichtlinie und die Dienstleistungsfreiheit. Insbesondere erklärten die Richter es für Unrecht, Unternehmen aus dem EU-Ausland auf die landesüblichen Tariflöhne zu verpflichten, die in Luxemburg automatisch der Ent-wicklung der Lebenshaltungskosten angepasst werden.

Aber auch die in Luxemburg geltenden Kontrollvorschriften gingen den Europa-Richtern zu weit. Das Recht der luxemburgischen Gewerbeaufsicht, "innerhalb kürzester Frist" Unterlagen wie Arbeitsverträge oder Angaben zur Sozialversicherung der entsandten Beschäftigten einzufordern, sei "angesichts der damit verbundenen Zwänge für Unternehmen" ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit.

Landesübliche Standards nicht verpflichtend

Damit haben die Richter am EuGH eine Praxis fortgesetzt, nach der es den EU-Staaten lediglich erlaubt ist, Unternehmen aus dem EU-Ausland, die in ihrem Hoheitsgebiet tätig werden, auf die Einhaltung von Mindeststandards, nicht aber der landesüblichen Standards zu verpflichten. Bereits in drei früheren Urteilen hatten die Richter nationale Arbeitsrechte der wirtschaftlichen Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit untergeordnet.

In ihrem so genannten Viking-Urteil (ver.di PUBLIK 05/2008) gingen die Richter sogar so weit, elementare Grundrechte einzuschränken. Grundrechte wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, ja auch die Menschwürde seien "mit dem Schutz des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit in Einklang zu bringen", heißt es in dem Urteil. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske bezeichnet diese Rechtsprechung als "einen ungeheuerlichen Vorgang". Es könne "nicht hingenommen werden, wenn auf EU-Ebene ein Schutz der Grundrechte nicht länger gewährleistet ist." Das treffe "die Kernnormen unserer Verfassung".

Bsirske schreibt Brief an die Bundeskanzlerin

In einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Partei- und Fraktionsvorsitzenden im Bundestag forderte Bsirske "politische Konsequenzen" ein. "Was steht in der EU eigentlich höher," fragt er in seinem Brief, "unveräußerliche Menschenrechte oder die Freiheit zur Lohnkonkurrenz - einer Lohnkonkurrenz zumal, die die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenso bedroht wie die des Handwerks, Mittelstandes und die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme." In seinem Schreiben fordert Bsirske die politischen Akteure "dringend auf", im EU-Ministerrat die Forderung des Europäischen Gewerkschaftsbundes nach einer sozialen Ergänzungsklausel zum EU-Vertrag von Lissabon zu unterstützen.

Die Antwort der Bundeskanzlerin lässt jedoch keinerlei Handlungswillen erkennen. Auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geht sie mit keinem Wort ein, stattdessen lässt sie Bsirske wissen, der Vertrag von Lissabon stärke "die soziale Dimension" Europas, da in ihm soziale Grundrechte verankert seien. Mehr, so die Bundeskanzlerin weiter, sei unter den EU-Staaten "nicht konsensfähig" und eine ergänzende Sozialklausel nach ihrer Auffassung "nicht durchsetzbar."

Zentrale Fragen bleiben offen

Auch vom SPD-Vorsitzenden Kurt Beck kam ein Antwortschreiben, in dem Beck immerhin die Kritik des ver.di-Vorsitzenden an der Rechtsprechung des EuGH teilt und die "Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel" in den EU-Vertrag fordert sowie "Verbesserungen in der EU-Entsenderichtlinie". Inzwischen hat Frank Bsirske wiederum auf das Schreiben der Bundeskanzlerin geantwortet. Ein Brief mit vielen Fragen, darunter die zentrale: "Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um ihrer Verpflichtung zum Schutz unserer Verfassung gerecht zu werden?" Die Antwort steht aus.