Ungute Mischung

Im September berät der Bundesrat abschließend die Modernisierung der Unfallversicherung. Die Organisationsreform ist zum Erfolg für ver.di geworden. Ganz anders sieht es jedoch bei den Leistungen aus – hier wurde eine Reform von der Großen Koalition vertagt. Schlecht, denn pro Jahr wird tausenden erkrankten Arbeitnehmern eine Berufskrankheitenrente verweigert

Von UTA VON SCHRENK

"Hallo, mein Mann hat über dreißig Jahre als Kraftfahrer gearbeitet. Er war im Kurzstreckenverkehr, hatte mehrere Ladestellen täglich. Hat viel auf- und abgeladen. Hat unter anderem Stahl gefahren, also wieder auf- und abladen, Plane auf und zu und so weiter. Es wurden Lendenwirbelsäulenschäden (zwei Vorfälle) und Halswirbelsäulenschäden (drei Vorfälle) festgestellt. In beiden Schultern hat er Arthrose, ebenso in der rechten Hand. In den Knien auch. Er hat Ausfallerscheinungen im rechten Bein, Taubheitsgefühl in der rechten Hand und so weiter. Nun, die Berufsgenossenschaft hat den ersten Antrag natürlich abgelehnt. Diese Erkrankungen kämen nicht von seiner Arbeit. Ich frage mich allerdings, was er nach täglich 12 bis 15 Stunden unterwegs sonst noch an Leistungssport getrieben hat? Ach ja, die Berufsgenossenschaft hat nur die letzten 17 Jahre (bei seiner letzten Firma!) berücksichtigt... Wir haben Widerspruch eingelegt. (...) Hat jemand Erfahrungen mit der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltung in Hamburg? Hat er überhaupt eine Chance? Was muss er beachten und eventuell weiter unternehmen? Man steht so hilflos davor... Freuen uns über jede Anregung." So schreibt eine Frau unter dem Pseudonym "Julchen" im Forum für Unfallopfer im Internet am 13. März dieses Jahres.

Die gesetzliche Unfallversicherung gilt als eine der Errungenschaften für Arbeitnehmer in Deutschland. Doch für viele im Beruf Erkrankte ist sie zum Verstärker ihres Unglücks geworden. "Das rechtliche Verfahren zu den Berufskrankheiten ist nicht gerade versichertenfreundlich geregelt", sagt Horst Riesenberg-Mordeja, Referent für Arbeitsschutz bei der ver.di-Bundesverwaltung.

Und tatsächlich legen die aktuellen Zahlen aus dem Bericht der Bundesregierung über den Stand von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen dies mehr als nahe: Im Jahre 2006 haben Ärzte 64182 Mal Anzeige auf Verdacht einer Berufskrankheit erstattet - anerkannt wurden lediglich 14732, entschädigt gar nur 4940 Fälle. Das ist eine Quote von nicht einmal acht Prozent. "Bei der Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten werden den Berufsgenossenschaften vom Gesetzgeber enge Grenzen gesetzt", antwortet die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege auf eine Anfrage von ver.di PUBLIK. Zudem gelte der Grundsatz "Rehabilitation vor Rente". Doch dies erklärt nicht alles.

Beweislast beim Erkrankten

Verantwortlich für die niedrige Renten-Quote ist eine ungute Mischung aus rechtlichen und medizinischen Hindernissen. Dass nicht jede anerkannte Berufskrankheit auch entschädigt wird, liegt zum einen daran, dass eine so genannte Verletztenrente ohnehin erst bei zwanzig Prozent Minderung der Erwerbsfähigkeit gewährt wird. Und viele Betroffene schulen um und suchen sich einen neuen Job, wenn sie dazu in der Lage sind. Die Berufskrankheit wird damit zur Privatsache.

Der Hauptgrund für die geringe Entschädigung indes ist das Berufskrankheitenrecht selbst. "Da herrscht keine Waffengleichheit", sagt Riesenberg-Mordeja. Denn die Beweislast liegt beim erkrankten Arbeitnehmer. Und das zieht Probleme nach sich: Frühere Arbeitsbedingungen und die aufgetretenen gesundheitsgefährdenden Belastungen werden nur unzureichend ermittelt oder von den Unternehmen trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht hinreichend dokumentiert. "Schwer Erkrankte müssen wie Detektive ihre eigenen Arbeitsbedingungen belegen - teils über Jahre zurück, bei Unternehmen, die es inzwischen gar nicht mehr gibt", sagt Riesenberg-Mordeja.

Hinzu kommt, dass viele Erkrankungen nur schwer auf den Beruf selbst zurückzuführen sind. Während Hauterkrankungen noch relativ leicht mit Chemikalien oder Infektionen mit Stichverletzungen durch verunreinigte Spritzen in Verbindung gebracht werden können, sieht es etwa bei Rückenleiden schwieriger aus: Siebzig Prozent haben psychische Ursachen. Stammen die Rückenschmerzen einer Altenpflegerin nun vom ständigen Heben der Patienten, oder hat das Leiden einen psychischen Hintergrund, der dann auch privater Natur sein könnte? Entsprechend niedrig sind die Anerkennungen bei diesem Krankheitsbild. Im Jahre 2006 wurden 5839 bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule zur Anzeige gebracht, anerkannt wurden lediglich 198, verrentet 121 Fälle.

Manipulative Gutachter

In die Kritik geraten auch immer wieder Gutachter, die restriktiv die Rentenbegehren der Erkrankten abschmettern. Besonders scharf attackiert die Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU), die Erkrankte mit lösemittelbedingten Nervenschäden unterstützt, die Gutachter der so genannten "Erlanger Schule". Diese würden so weit gehen, "in ihren Gutachten Facharztbefunde und international gültige Diagnoserichtlinien zu ignorieren und einschlägige Standardliteratur manipulativ falsch zu zitieren", sagt Peter Röder, Gründer der IkU. Inwiefern auch immer diese Vorwürfe berechtigt sind: Dass man viel Pech bei der Wahl seines Gutachters haben kann, geben selbst Arbeitsmediziner zu. Ulrich Bolm-Audorff, seit über zwanzig Jahren staatlicher Gewerbearzt in Wiesbaden und Professor für Arbeitsmedizin, geht sogar noch weiter: "Aus meiner Sicht steuern Teile der Unfallversicherungsträger die Quote anerkannter Berufskrankheiten durch gezielte Auswahl medizinischer Sachverständiger. Dem Erkrankten werden Ärzte vorgeschlagen, die in einem Vertragsverhältnis mit der Unfallversicherung stehen". Zudem habe er die Erfahrung gemacht, "dass von Teilen der Unfallversicherungsträger vorzugsweise Ärzte mit niedriger Anerkennungsquote als Gutachter vorgeschlagen werden".

Unklare Krankheitsbilder

Zu allem Überfluss sind es dann noch die Krankheiten selbst, die für ein unklares Bild sorgen: Berufskrankheiten entwickeln sich häufig schleichend, über Jahrzehnte. Viele Betroffene und ihre behandelnden Ärzte führen daher die Hirnentzündung oder den Lungenkrebs nicht auf den Beruf zurück. Deshalb bringen sie den Fall gar nicht erst zur Anzeige.

Wie also dieser unguten Mischung abhelfen? Der Gewerkschafter Riesenberg-Mordeja fordert zum einen unabhängige Beratungsstellen für erkrankte Arbeitnehmer auf Landesebene. Zum anderen fordern Experten, die Beweislast vom Erkrankten auf die Unternehmen zu verschieben. Kann ein Unternehmen keine Gefährdungsbeurteilung nachweisen, sollen die Berufsgenossenschaften automatisch von einer Belastung des Erkrankten am Arbeitsplatz ausgehen. Doch die Bundesregierung hat eine Reform der Leistungen der Berufsgenossenschaften erst einmal vertagt - auch auf Druck der Gewerkschaften, die so einen Gesetzesentwurf mit deutlichen Verschlechterungen für die Versicherten abwehren konnten.

Bei aller Kritik hätte es in den vergangenen Jahrzehnten durchaus auch Verbesserungen in der Anerkennungspraxis der Berufsgenossenschaften gegeben, sagt Riesenberg-Mordeja. Er erinnert in diesem Zusammenhang an den Umgang mit den Asbest-Erkrankten vor zwanzig Jahren. Zunächst wurden nur wenige Asbestlungen oder Lungenkrebsfälle als Berufskrankheit anerkannt, die Gutachter waren schnell mit dem Vorwurf des Rauchens bei der Hand. Doch mit den Jahren und den erdrückenden Forschungsergebnissen kam die Einsicht. Aber, sagt Riesenberg-Mordeja: "Diese Verbesserungen sind mit dem Blut der betroffenen Arbeitnehmer geschrieben."

www.dguv.de Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung

www.bk1317.de Initiative kritischer Umweltgeschädigter (BK 1317 ist das Kürzel für die Berufskrankheit lösemittelbedingte Nervenschäden)

www.abekra.de Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter

Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

Die gesetzliche Unfallversicherung

Die Unfallversicherung: Die gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand versichern etwa 73 Millionen Menschen gegen Arbeits-, Wege- und Schulunfälle sowie Berufskrankheiten. Sie werden allein von den Arbeitgebern finanziert. Derzeit zahlen sie im gewerblichen Bereich im Durchschnitt etwa 1,28 Prozent des Bruttolohns für die Unfallversicherung.

Keine Leistungseinschnitte: Der Bundestag hat eine Organisationsreform der gesetzlichen Unfallversicherung beschlossen. Wird sie vom Bundesrat verabschiedet, tritt sie am 1. Oktober in Kraft. Auswirkungen auf die Versicherungsleistungen wird es keine geben - ein Umstand, über den Arbeitsschützer bei ver.di sehr erleichtert sind. Denn ursprünglich waren Einschnitte geplant. Auch der Wegfall der Wegeunfallversicherung war gefordert.

Reduzierung der Berufsgenossenschaften: Um die Unfallversicherung straffer zu führen, soll die Zahl der Berufsgenossenschaften von ursprünglich 35 auf neun bis Ende 2009 reduziert werden. "Dies ist auch die absolute Untergrenze, denn bei noch mehr Zentralisierung ist eine branchenspezifische Prävention kaum möglich", sagt Horst Riesenberg-Mordeja, bei der ver.di-Bundesverwaltung für Arbeitsschutz/Unfallversicherung zuständig.

Prävention: Teil der Reform ist auch eine "Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie". Dies begrüßt ver.di, moniert aber, dass die Länder de facto mehr Präventionsschwerpunkte unterlaufen. Sie bauen laufend Arbeitsplätze in den Gewerbeaufsichtsämtern ab - die zu schwachen deutschen Überwachungskapazitäten wurden auch schon in der EU kritisiert. Allein die Kosten präventiv nicht vermiedener arbeitsbedingter Erkrankungen werden nach einer Analyse, die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Auftrag gegeben wurde, auf rund 40 Milliarden Euro jährlich veranschlagt. Schwerpunkte der neuen Präventionsstrategie sollen Arbeitsunfälle bei Leiharbeitern, Muskel- und Skeletterkrankungen sowie Hauterkrankungen sein. Insbesondere bei den Muskel-Skelett-Erkrankungen sind psychische Fehlbelastungen und altersgerechte Arbeitsplätze mit einzubeziehen. Riesenberg-Mordeja befürchtet, dass der wachsende Anteil der psychischen Fehlbelastungen nur unzureichend berücksichtigt wird.UVS