Als die Welt für Kyung-Ok Lee noch in Ordnung war, da war sie Hausfrau und Mutter. Dann wurde sie Sandwich-Verkäuferin in einer Supermarktkette - und Gewerkschafterin. Seit über 90 Tagen nun befindet sie sich im Sitzstreik

"Ich war immer sehr unauffällig. Sehr gut erzogen."

Farbige Transparente und handbemalte Schilder markieren das kleine Zelt, das vor dem Eingang eines riesigen Fußballstadions steht. Kyung-Ok Lee strahlt und bietet ihren Besuchern Kaffee und Obst an. In Korea ist Erntedankfest. Kyung-Ok Lee (49) ist Vizepräsidentin der Gewerkschaft bei der Supermarktkette E-Land. Seit über 90 Tagen besetzt sie einen kleinen Streikposten am Worldcup Stadion in Seoul. 90 Tage sind eine lange Zeit. Doch es geht auch um etwas. Über 1000 befristet beschäftigte Kolleginnen sind entlassen worden. Insgesamt streiken rund 300 Frauen der E-Land-Gewerkschaft schon seit über 500 Tagen.

Der E-Land-Konzern betreibt eine Reihe von Supermärkten in Korea und macht seine Gewinne ähnlich wie Lidl oder Schlecker vor allem auf Kosten seiner zumeist weiblichen Beschäf- tigten. Ein Jahreslohn beträgt hier 9000000 Won, etwa 5300 Euro. Existenz sichernd ist das nicht. 80 Prozent der Belegschaft sind auf prekärer, befristeter Basis beschäftigt.

So auch Kyung-Ok Lee. Vor acht Jahren begann sie an der Sandwich-Theke eines E-Land-Marktes. "Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal arbeiten müsste. Aber nach dem Tod meines Mannes bin ich plötzlich zur Familienernährerin geworden und musste mir mit 41 Jahren einen Job suchen."

Vor sieben Jahren kamen dann die Packer auf die Idee, eine Betriebsgewerkschaft zu gründen. "Ich habe anfangs gar nicht gewusst, was das Wort Gewerkschaft bedeutet", gibt Kyung-Ok Lee zu. Sie wird zur Sprecherin gewählt. "Ungerechtigkeiten konnte ich noch nie gut ertragen", sagt sie. Auch diese nicht: Den Mitarbeiterinnen wurde ständig von den Abteilungsleitern gedroht, "wenn ihr nicht gut arbeitet, dann kündigen wir euch dem Alter nach." Zudem wurden Frauen bei Beförderungen stets übergangen.

"Ich war immer sehr unauffällig. Sehr gut erzogen. Als Kind wollte ich eine brave Tochter sein. Dann eine gute Ehefrau, Schwiegertochter und Mutter. Das war meine heile Welt", sagt Kyung-Ok Lee und lächelt. Die älteste von insgesamt sieben Geschwistern stammt aus einem konservativen Elternhaus. Der Vater hat in einem Verlagshaus gearbeitet, die Mutter war Hausfrau.

Als ihre Schwester sich in den achtziger Jahren in der Demokratisierungsbewegung engagierte, hatte Kyung-Ok Lee kein Verständnis dafür. "Wie kann sie unseren Eltern so etwas nur antun, habe ich damals gedacht." Doch als sie anfing zu arbeiten, musste Kyung-Ok Lee feststellen, dass nicht alles auf dieser Welt zu ihren Gunsten verläuft.

Weil die E-Land-Group im Juni 2007 1100 befristet Beschäftigte entließ, um sie durch Subunternehmer zu ersetzen, traten 1500 Gewerkschafterinnen in den unbefristeten Streik. Sie besetzten prestigeträchtige Filialen, teils tagelang. Kyung-Ok Lee stets vorneweg. Als die berüchtigte "Riot Police" die Filialen gewaltsam räumte, war das ein tiefer Einschnitt für die sehr rechtsgläubige Frau. "Mein Sohn hat mich damals hier während einer Besetzung besucht, und ich habe ihm sagen müssen: Hör mal, es kann sein, dass ich verhaftet werde." Doch der Sohn entgegnete nur, dass es kein Unrecht sei, wenn man sich für Schwächere einsetzt. In Kyung-Ok Lees Augen glitzern Tränen. "Er hat gesagt, dass er sich um die Familie kümmern und mich auch gegenüber meinen Schwiegereltern verteidigen werde, ich solle mir keine Sorgen machen und weiter kämpfen."

Bilder von weinenden Frauen, die aus den besetzten Filialen getragen wurden, beherrschten tagelang die nationalen Medien, mit einem Schlag wurde der Fall E-Land berühmt. Mütter, prekär Beschäftigte, die sich organisieren und wochenlang getrennt von ihren Familien streiken und sogar Filialen besetzen - so etwas hatte es im konservativen Korea bislang nicht gegeben. Der Fall E-Land hat dem Kampf gegen prekäre Beschäftigung einen Namen und ein Gesicht gegeben. Die landesweite Solidarität war überwältigend, sagt Kyung-Ok Lee.

Drei Monate inhaftiert

Es ist Mittagszeit und Kyung-Ok Lee's Handy klingelt. Eine Kollegin. Es gebe etwas Gutes zu essen. "Fast jeden Tag kommt jemand von einer Gewerkschaft oder Kirche zu uns und bringt Essen - oder lädt zu sich ein", sagt sie. Kurze Zeit später sitzt sie schwatzend mit ihren Kolleginnen in einem Gemeindehaus in der Nähe. Sie wirkt gelöst.

Das war nicht immer so. Im Oktober vergangenen Jahres wurde sie verhaftet und saß drei Monate in Untersuchungshaft. Aus Gründen der "nationalen Sicherheit" wurde damals die gesamte Gewerkschaftsführung inhaftiert. Der Fall E-Land war mittlerweile zu einem nationalen Symbol für soziale Ungerechtigkeit geworden, 80 Prozent der Koreaner unterstützen nach einer Umfrage der großen Tageszeitung "Hankyoreh" den Streik. Der Druck auf das Unternehmen wurde fast täglich durch vielfältige Aktionen, die Intervention von internationalen Gewerkschaftsverbänden und eine massive Medienpräsenz erhöht.

"Wenn wir damals nicht verhaftet worden wären und den Druck weiter aufrecht gehalten hätten - wir hätten den Streik im Herbst gewonnen", sagt Kyung-Ok Lee. Als sie Ende des Jahres wieder entlassen wird, ist ein Großteil der Energie verpufft. Während es in den ersten Monaten noch täglich Demonstrationen und Aktionen gab, gibt es seit diesem Frühjahr allenfalls einmal die Woche eine kleine Kundgebung. "Jetzt geht es in erster Linie darum, nicht aufzugeben", sagt Kyung-Ok Lee. Es klingt bitter.

Kyung-Ok Lee sieht ihre Familie selten, aber nun, da die Kinder erwachsen sind, ist es leichter. In einem früheren Streik sei sie jeden Morgen nach Hause gefahren, um Essen für ihre Tochter zu machen, die gerade Abitur machte - immer mit schlechtem Gewissen. "Aber ich kämpfe ja auch für sie. Für eine Welt, in der es keine prekäre Beschäftigung gibt." Ein weiter Weg bis dahin. Im März ist Kyung-Ok Lee und weiteren 30 aktiven Kolleginnen gekündigt worden. "Wenn der Streik erstmal zu Ende ist, dann müssen wir natürlich um unsere Wiedereinstellung kämpfen", sagt Kyung-Ok Lee. Nach dem Streik ist vor dem Streik.

Streiks in Korea

sind eine aufreibende, Kräfte zehrende Angelegenheit. Zu der ständigen Gefahr von Verhaftungen und Verwüstungen des Streikzelts durch angeheuerte Schlägertrupps kommt die finanzielle Belastung für die Beschäftigten. Wer streikt, erhält keinen Lohn. Die E-Land-Gewerkschaft kann sich keinen Streikfond leisten, ist auf Spenden angewiesen. "Davon leben können wir nicht. Die meisten von uns haben Nebenjobs als Tellerwäscherinnen", sagt Kyung-Ok Lee. Sie selbst auch. Viele Streikende sind diesem Druck nicht gewachsen und geben auf.