Eine Idee macht Schule. Vorlesen bildet, vor allem hilft es Kindern aus sozial schwachen Familien. Immer mehr Privatpersonen werden in Schulen Lesepaten, und alle haben etwas davon. Ein Bericht aus der Berliner Praxis

Gemeinsam statt einsam lesen wird für alle Beteiligten zur Entdeckungsreise: Susanne Dammasch in der Berliner Gotzkowsky-Grundschule

Susanne Dammasch liebt ihren kleinen Nebenjob. Das freudige Lachen, wenn sie in die Klasse kommt. Die roten Backen, wenn die Kinder gebannt ihrer Geschichte folgen. Die überraschenden Wendungen, die eine Lesestunde nehmen kann, wenn die Schüler sie mit Fragen löchern. Wie das letzte Mal, als sie einen Text über das Wattenmeer lesen wollten und plötzlich mitten in einem erhitzten Gespräch standen: Was ist ein Watt überhaupt? Wie fühlt es sich an, wie ist es entstanden, welche Tiere leben da? Dammasch: "Lesen bedeutet vor allem gemeinsames Verstehen und Entdecken."

Susanne Dammasch ist Lesepatin. Ehrenamtlich. Einmal die Woche geht die Unternehmensberaterin für zwei Stunden in die Berliner Gotzkowsky-Grundschule und liest mit den Kindern gemeinsam Geschichten. Mal arbeitet sie mit zwei, drei Schülern intensiv, während für die anderen der Unterricht weiter läuft. Mal wird die Klasse geteilt, dann übt Dammasch mit zwei anderen Lesepaten mit der einen Hälfte, die anderen lesen mit der Lehrerin. Mal werden stärkere und schwächere Schüler gemischt, mal für die Leseeinheiten getrennt. Seit die 41-Jährige vor fünf Jahren den Anstoß für die Lesepatenschaften in der Schule ihrer Tochter gegeben hat, wurde reichlich experimentiert. Heute sind 16 Paten regelmäßig mit dabei, aus der Mütterinitiative von einst ist ein gut durchorganisiertes Konzept mit 14 externen Freiwilligen geworden.

Lesepatenschaften wie an der Gotzkowsky-Grundschule erleben einen gewaltigen Boom. Zum Beispiel das "Bürgernetzwerk Bildung", dem sich auch Dammasch und ihre Mitstreiter/innen vor gut drei Jahren angeschlossen haben. Im Januar 2005 hatte Ex-Schulsenatorin Sybille Volkholz in Kooperation mit dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller das Netzwerk aus der Taufe gehoben. Die Idee: auf der Basis von bürgerschaftlichem Engagement die Lesekompetenz von Schüler/innen vor allem aus bildungsfernen, sozial schwachen Elternhäusern fördern. Volkholz: "In enger Kooperation mit den Schulen vor Ort erreicht man diese Schül-er/innen am besten." Inzwischen ist die Zahl der Paten auf 1800 gewachsen, sie lesen an 139 Grundschulen, knapp 70 Kitas und Hauptschulen.

Nicht erst, seit die Pisa-Studie der Lesekompetenz deutscher Schüler/innen schlechte Noten gegeben hat, machen sich Bildungsexperten Gedanken darüber, wie man die Lesefähigkeit von Kindern fördern kann. 70 Prozent der Paten sind Rentner, 10 Prozent Männer.

Kinder sind Schwämme

Seit knapp 30 Jahren fördert die Stiftung Lesen Lesepaten-Projekte in öffentlichen Einrichtungen, Bibliotheken, Krankenhäusern, manchmal auch Schulen. Der Vorleseclub der Stiftung hat 7000 Mitglieder. "Unsere Studien zeigen: Das gesprochene Wort geht in den Elternhäusern zurück, auch in bürgerlichen Familien", sagt Sigrid Strecker von der Stiftung Lesen. "Nur noch in einem Drittel der Familien wird vorgelesen. Es reicht nicht, dem Kind ein ,gutes Buch' in die Hand zu drücken. Man muss es gemeinsam entdecken."

Wie viel Vorleseprojekte für die Leselust tun können, hat bereits vor zehn Jahren eine Studie der Stiftung Lesen gezeigt: Drei Jahre lang beobachteten die Wissenschaftler elf Kitas mit Kindern aus sozial schwachen Familien. Regelmäßig wurde ihnen vorgelesen. Ergebnis: Der sprachliche Ausdruck, Satzstrukturen und Vokabular verbesserten sich deutlich, Kreativität und Lesefreude wuchsen.

Lesepatin Susanne Dammasch hat das selbst erlebt. "Durch das intensive Lesen mit den Kindern haben sich ihre Leistungen in allen Fächern beeindruckend verbessert", so Dammasch. "Denn wer besser Deutsch verstehen lernt, tut sich auch leichter in Mathematik." Die Folge: In den Berlin-weiten Vergleichstests Ende der zweiten Klasse schnitten die Schüler mit intensiver Leseförderung überdurchschnittlich ab.

Deshalb müssen die Paten auf ihre Aufgabe gut vorbereitet werden. Eine enge Zusammenarbeit mit den Lehre-r/innen ist daher ebenso selbstverständlich wie regelmäßige Treffen von Paten und Pädagogen. Wer möchte, kann gratis Fortbildungen an der Freien Universität Berlin machen.

An der Tucholsky-Grundschule im Berliner Brennpunktviertel Moabit sucht Klassenlehrerin Petra Seirig die Texte für die Paten ihrer zweiten Klasse aus, sie weiß, was ihre Kids umtreibt. Das Thema Jungen und Mädchen zum Beispiel: Was mögen sie? Wo sind sie unterschiedlich? Was haben sie gemeinsam? Seirig: "Die Lesepaten sind eine wunderbare Ergänzung zum Unterricht. Sie sollen weniger vorlesen, sondern die Kinder zum Lesen motivieren, mit ihnen über die Texte reden, sie zum Sprechen und Wiedergeben anregen." Dadurch erweitern sie Wortschatz, Sprachfähigkeit und Konzentrationsvermögen.

Daran hakt es bei den meisten Schülern. 80 Prozent der Kinder an der Tucholsky-Grundschule sind ausländischer Herkunft. Etwa die Hälfte der Eltern kann nicht genug Deutsch, um vorzulesen. "Viele Schüler hocken stundenlang vor Fernseher und Computer, Verhaltensauffälligkeiten und Sprachentwicklungsstörungen sind bei uns an der Tagesordnung", sagt Schulleiterin Ines Pakulat. "Dabei sind sie wie trockene Schwämme, die alles mit großer Neugier aufsaugen."

Susanne Dammasch möchte die Arbeit mit den Kindern nicht mehr missen. Jede Stunde ist neu und anders. Wenn die gar nicht genug bekommen können vom Erzählen, Lesen, Nachfragen. Wenn sie merkt, dass manchmal Kinder, die schnell und gut zu lesen scheinen, kaum etwas davon aufnehmen und behalten. Wenn sie merkt, dass manchmal Schüler/innen, die sich durch den Text stottern, hervorragend den Inhalt wiedergeben können. "Das gemeinsame Lesen ist immer eine Entdeckungsreise - für beide Seiten", sagt die Lesepatin.