Wie die Angestellten zu ihrem Recht kamen

Er gilt als der bedeutendste Gewerkschafter der Weimarer Republik. Mit Elan brachte er das Selbstbewusstsein der Angestellten auf Vordermann. Nicht Mittelschicht noch Chefetage, sah Siegfried Aufhäuser sie eher an der Seite der Arbeiter und prägte so die Angestelltenbewegung des 20. Jahrhunderts. Am 1. Mai wäre er 125 Jahre alt geworden

Von Gunter Lange

Als Lehrling schleppt er schwere Stoffballen, bedient die schwergängige Kopierpresse, erledigt Botengänge für den Prinzipal. "Muskeltraining" nennt er seine Lehrjahre. Mit deutlicher Kritik an der Lehrlingsausbildung im Handel eröffnet der 25-jährige Siegfried Aufhäuser am 6. März 1909 in Berlin eine Konferenz des Vereins der Deutschen Kaufleute (VdDK). Er steht am Anfang seiner gewerkschaftspolitischen Karriere, in deren Verlauf er zum Modernisierer der Angestelltenbewegung werden wird.

Siegfried Aufhäuser wird am 1. Mai 1884 in Augsburg als jüngster Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren. Nach der Höheren Handelsschule absolviert er beim Münchner Textilhändler Einhorn eine Handlungsgehilfenlehre. "Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt 12 Stunden. Es wird erwartet, dass jedermann ohne Aufforderung Überstunden macht, wenn es die Arbeit erfordert", heißt es damals in den Arbeitsordnungen für Angestellte. Vom Lehrling wird "absoluter Gehorsam gegenüber dem Lehrherrn" erwartet. Handlungsgehilfen sind wie Leibeigene. Dagegen opponiert der Lehrling Aufhäuser und tritt dem VdDK bei.

Ein höflicher Azubi

1905 zieht Aufhäuser von München nach Berlin. Tagsüber arbeitet er am Werderschen Markt im noblen Textilhaus Gerson, trägt Gehrock mit Weste, unter dem Stehkragen eine dezente Krawatte. Er ist redegewandt und verbindet seine Jugendlichkeit mit ausgesuchter Höflichkeit gegenüber der feinen Kundschaft. Abends besucht er Kurse und widmet sich mit großer Energie seinem kleinen Berufsverband. Bislang hielten Angestellte zur Gewerkschaft Distanz. Sie sahen sich selbst als künftiger Prinzipal mit eigenem Laden. Eine Illusion, wie Aufhäuser schon damals angesichts der Kaufhäuser und Ladenketten erkannte.

Visionär mit Ideen

Nur ein kleiner Teil der Angestellten ist in den rund 70 Angestelltenverbänden organisiert. Aufhäuser will sie aus der berufsständischen Ecke holen. Für ihn sind Angestellte weder "Mittelschicht" noch ein "besonderer Berufsstand", sondern ebenso lohnabhängig beschäftigt wie Arbeiter. "Wir haben als Angestellte gemeinsame Interessen mit den Arbeitern", sagt er 1910 auf dem Parteitag der "Demokratischen Vereinigung", einer linksliberalen Partei, an deren Gründung er sich 1908 beteiligt hatte. Keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, in der Arbeiter und Angestellte sozialpolitisch eher auseinanderdividiert wurden.

In der quirligen Reichshauptstadt begegnet er Anna Stein. Auch sie kommt aus einer jüdischen Fabrikantenfamilie, ist gelernte Handlungsgehilfin. Für den Zentralverband der Handlungsgehilfen agitiert sie die besonders schlecht bezahlten Frauen im Handel. Und sie mischt sich für die Sozialdemokraten in Wahlkämpfe ein. Siegfried Aufhäuser und Anna Stein heiraten 1910; sechs Jahre später, mitten im Ersten Weltkrieg, kommt die Tochter Eva zur Welt.

Inzwischen ist der Fabrikantensohn Siegfried Aufhäuser "Gewerkschaftsbeamter". So hießen die Sekretäre damals, beim "Bund der technisch-industriellen Beamten". Er befasst sich mit dem für Angestellte zersplitterten Arbeits- und Sozialrecht und wird 1914 mit der Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft für ein einheitliches Angestelltenrecht betraut, einer Schnittstelle gewerkschaftlicher Angestelltenverbände. In seinem Kopf reift die Vision eines geeinten Angestelltenverbandes, der auch Streiks - an der Seite der Arbeiter - nicht scheut. Aus der Arbeitsgemeinschaft formt er bis 1921 den "Allgemeinen freien Angestelltenbund" (AfA) und wird dessen Vorsitzender.

Was Aufhäuser vor dem Weltkrieg geahnt hat, ist eingetreten: Die Angestellten spüren, wie unsicher auch ihr Arbeitsplatz ist. Sie haben im Vergleich zur Vorkriegszeit stärkere Einkommenseinbußen als die Arbeiter und freunden sich langsam mit den Gewerkschaften an. Zu Beginn der Weimarer Republik ist Aufhäusers AfA-Bund die stärkste Angestelltengewerkschaft.

Wichtig ist ihm nun der Schulterschluss mit den Arbeitergewerkschaften, mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB). Als im März 1920 Militaristen gegen die Republik putschen, bewährt sich dieses Bündnis: AfA-Bund und ADGB rufen zum Generalstreik auf. Nach fünf Tagen geben die Putschisten auf, die Republik ist gerettet.

Die Weimarer Republik ist Aufhäusers erfolgreichste Zeit. Als AfA-Vorsitzender ist er die Stimme der Angestellten. Nahezu prophetisch sieht er im Angestellten den Arbeitnehmer der Zukunft: gut ausgebildet, beruflich differenziert und selbstbewusst.

Siegfried Aufhäuser, eher klein von Statur, erweist sich als großer Redner auf Konferenzen sowie Kundgebungen mit zigtausend Teilnehmern. Und er brilliert im Reichstag, dem er seit 1921 als SPD-Abgeordneter angehört. Er ist sozialpolitischer Sprecher seiner Fraktion, treibt das Arbeitsgerichtsgesetz und die Arbeitslosenversicherung voran.

Arbeit mit 67

Im Mai 1933 zerschlagen die Nazis die Gewerkschaften und damit auch Aufhäusers Angestelltenbewegung. Vergeblich hatte er sich gegen den Anpassungskurs der Gewerkschaften gestemmt und gibt nun resigniert sein Amt als AfA-Vorsitzender auf. Den Nazis ist er Feindbild gleich in dreierlei Hinsicht: Gewerkschafter, Sozialdemokrat und Jude.

Mit der Familie flieht er nach Prag. Tochter Eva geht 1934 nach Palästina und schließt sich der Kibbuz-Bewegung an. Noch vor Hitlers Einmarsch in Prag flüchten die Aufhäusers nach New York, inzwischen auch das Exil für Bruder David und Schwester Frieda. Der älteste Bruder Albert kommt 1942 im KZ Theresienstadt um. Siegfried Aufhäuser agitiert gegen die Nazis und schließt sich Gruppierungen an, die Deutschland nach dem Ende der Nazi-Diktatur neu gestalten wollen. In New York publiziert er in der deutschsprachigen Zeitung Aufbau.

1951 schließlich kehrt das Ehepaar Aufhäuser zurück nach Berlin. "Ich bin zwar geborener Bayer, aber Wahl-Berliner aus Überzeugung", bekennt Siegfried Aufhäuser. Er wird mit 67 Jahren für sieben Jahre Berliner Landesvorsitzender der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, die nicht dem neu gegründeten DGB angehört - eine Trennung, die er für falsch hält.

Sein Verdienst bleibt. Er hat die zersplitterten Berufsverbände der Angestellten geeint und zu fortschrittlichen Gewerkschaften geformt. Damit hat er auch ein Fundament für ver.di gelegt.

25 Jahre internationale Gewerkschaftsbewegung, auch der AfA-Bund ist 1926 dabei

Siegfried Aufhäuser 1884 - 1969

In der Schriftenreihe Zur Person hat ver.di über Siegfried Aufhäuser ein Porträt herausgegeben(www.aufhaeuser.verdi.de). "Ein Leben für die Angestelltenbewegung" ist Thema einer Ausstellung vom 4. bis 15. Mai 2009 in der ver.di-Bundesverwaltung, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin, sowie einer Veranstaltung am 6. Mai 2009 ab 18 Uhr am gleichen Ort.