Die Aufpasser

An die 60 000 Tarifverträge gibt es im Organisationsbereich von ver.di, schätzt Jörg Wiedemuth - von bundesweit geltenden Branchenregelungen bis zu Haustarifverträgen. Der Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung und sein Team sammeln derzeit alle gültigen Bestimmungen. Ein Ziel der Herkulesarbeit: In etwa zwei Jahren soll jedes ver.di-Mitglied per Internet Zugriff auf den für sie oder ihn geltenden Tarifvertrag haben.

Das zweite Ziel hat mit der Arbeit der Clearingstelle zu tun, der Wiedemuth vorsteht: Sie wacht darüber, dass vom ver.di-Gewerkschaftsrat beschlossene tarifpolitische Grundsätze eingehalten werden. Die drei wichtigsten: Es darf keine Entlohnung unter 7,50 Euro vereinbart werden. Eine pauschale Verlängerung der Wochenarbeitszeit ist nicht möglich. Im Not- und Härtefall kann in einer Branche zwar das Tarifniveau gesenkt werden, jedoch nur, wenn so die Beschäftigung gesichert wird.

Die Clearingstelle, besetzt mit jeweils einem Vertreter aller 13 ver.di-Fachbereiche, schritt beispielsweise ein, als im Bewachungsgewerbe ein Stundenlohn unter 7,50 Euro ausgehandelt wurde. Der Tarifvertrag trat vorerst nicht in Kraft. Nun musste der ver.di-Bundesvorstand abwägen: Gibt es Gründe, den Verstoß gegen eigene Regeln durchgehen zu lassen? In diesem Fall ja, berichtet Wiedemuth, sonst hätte eine kleine christliche Gewerkschaft den Tarifvertrag geschlossen und ver.di den Einfluss verloren. "Wenn die einheitliche tarifpolitische Linie zugunsten übergeordneter Interessen aufgegeben wird, ist das für die Betroffenen oft nur schwer nachvollziehbar", sagt Wiedemuth. "Aber bürokratische Maßstäbe allein, ohne politischen Bewertungsspielraum - das würde die Organisation aktionsunfähig machen."

In brisanten Situationen sind Flexibilität und Phantasie nötig: Als etwa Karstadt in die Insolvenz ging und die Frage aufkam, ob die Beschäftigten einen Rettungsbeitrag leisten, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten sollten. Die Lösung sieht vor, dass die Aufgabe des tariflichen Anspruchs nur so lange gilt, wie das jeweilige Karstadt-Haus nicht geschlossen wird.

Ungewöhnlich war 2006 auch der Fall der Papierverarbeitung. Seit mehr als einem Jahr gab es in der Branche keinen Manteltarifvertrag mehr. Nun schien eine Einigung mit den Arbeitgebern möglich. Der Preis: Im Einzelfall mehr als 35 Stunden Arbeitszeit pro Woche, auf Betriebsebene vereinbart. Es wurde verbindlich festgelegt, dass jede entsprechende Betriebsvereinbarung von der Clearingstelle begutachtet wird, um zu verhindern, dass die Situation in den Unternehmen völlig aus- einander driftet.

Bei neuen Themen, etwa dem Leistungslohn oder dem Umgang mit Zeitwertkonten, erörtert die Bundestarifkommission, ob es eine einheitliche ver.di-Linie geben soll. "Das hat schon Orientierungswirkung", sagt Wiedemuth. Auch ohne ausdrücklichen Beschluss des Gewerkschaftsrats.