Hülya Gözel (li.) und Branka Nadj

Von Hermann Schmid

Hülya Gözel treten immer noch Tränen in die Augen, wenn sie an diesen Montag zurückdenkt: Am 13. September flatterte übers Gelände der TNT Post Sortier und Logistik GmbH in Fellbach bei Stuttgart ein "Band der Solidarität", getragen von ihren Kolleg/innen im Betrieb und aus dem ver.di-Bezirk Stuttgart.

Stuttgart und Mekka

Die Initiative galt Hülya, die seit Jahresanfang einen Betriebsrat vorbereitet und seit der Wahl im Mai als dessen stellvertretende Vorsitzende gewirkt hatte. Ein Einsatz, der die Geschäftsleitung offensichtlich ärgerte. Obwohl TNT ständig Arbeitskräfte braucht, wurde Hülya Gözel schon am 3. September von ihrer Arbeit entbunden - zwei Wochen, bevor ihr befristeter Arbeitsvertrag ausgelaufen wäre. Doch sie kam weiter in den Betrieb, wenn auch durch den Hintereingang, um das Mandat auszufüllen, das ihr die Beschäftigten übertragen hatten. Auch dem fünfköpfigen Gremium fühlte die Ausgestoßene sich verbunden, da es seit Monaten immer wieder Angriffen ausge- setzt war. So hatte ein Mitarbeiter sich dazu hergegeben, Unterschriften gegen den Betriebsrat zu sammeln, weil der angeblich nur Geld koste, sich zu Lasten der Beschäftigten schulen lasse und nichts für sie tue. Das war zwar schnell vom Tisch, weil Paragraph 119 des Betriebsverfassungsgesetzes derartige Schikanen unter Strafe stellt. Die Angst mancher Beschäftigter, jedes Gespräch mit dem Betriebsrat könnte ihnen zum Nachteil gereichen, machte Hülya Gözel aber mehr zu schaffen. Die Furcht war so verbreitet, dass Ersatzmitglieder des Gremiums wie- der absprangen.

"Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt", sagt Hülya. "Ohne ver.di hätte ich die Zeit nicht durchgestanden." Die Solidaritätsaktion am 13. September hat das Blatt gewendet. Der eigens nach Fellbach angereiste Personalchef von TNT Deutschland, Kay Olaf Rekittke, sah sich gezwungen, mit ver.di über Hülya Gözels Bleiben in der Firma zu verhandeln. Drei Tage später wurde ihr Arbeitsvertrag entfristet. Nun kann sie sich weiter für die Beschäftigten einsetzen - zum Beispiel für höhere Löhne und bessere Arbeitszeiten, für Dienstkleidung und Sicherheitsschuhe, eine transparente Urlaubsplanung und Vollzeitverträge.

"Ich musste mich schon von klein auf behaupten", sagt die 29-jährige Türkin mit deutschem Pass. "Kampf ist in mir drin" - aber nicht gegen die bei TNT als Kraftfahrer tätigen Kurden. "Diesen Konflikt gibt's bei uns nicht, weil wir alle im gleichen Boot sitzen und gemeinsam rudern müssen, um voranzukommen." Die gläubige Sunnitin ist im Stuttgarter Marienhospital geboren und betrachtet die Stadt als ihre Heimat, die sie vermisst, wenn sie zu Besuch in der Türkei ist. Irgendwann will sie aber "auch mal nach Mekka".

Mit jugoslawischer Live-Musik

Vor kurzem ist Branka Nadj ver.di-Mitglied geworden. Von der Gewerkschaft erwartet die 42-jährige Kroatin Rat und Tat für ihre Aufgabe als Betriebsratsvorsitzende bei der BWPOST, einem privaten Briefdienstleister, der 2009 aus der SchwabenPost und der Firma briefbote-südwest hervorging. Zeitungsverlage betreiben diesen größten Konkurrenten der Deutschen Post im Stuttgarter Raum.

"Wir brauchen einen Tarifvertrag", hat der neu gewählte Betriebsrat des 140 Beschäftigte zählenden Unternehmens erkannt, "und dabei kann uns nur ver.di helfen." Also sind - mit Unterstützung des ver.di-Sekretärs Ivo Garbe - sechs der sieben Mitglieder des Gremiums und auch die beiden, die nachgerückt sind, in die Gewerkschaft eingetreten. Das war ein Signal für die Belegschaft: Der Organisationsgrad vervierfachte sich in kurzer Zeit. Allein Branka Nadj warb in den letzten Monaten 17 neue ver.di-Mitglieder.

Und sie kann noch mehr Erfolge vorweisen: Den 400-Euro-Kräften konnte der Betriebsrat die Ansprüche auf Urlaub, Lohnfortzahlung bei Krankheit und Nachtzuschläge sichern. Durchgesetzt hat er den Ausschuss für Arbeitssicherheit, zwei Mitglieder wurden extra dafür geschult. Zu beenden sei beispielsweise die Praxis, Frauen bis zu 35 Kilo schwere Kisten schleppen zu lassen. Vorrangig bemüht der Betriebsrat sich zurzeit um ein faires Verfahren, wie Überstunden festgesetzt, erfasst und abgegolten werden.

Branka Nadj regelt Konflikte gern "im Einvernehmen", scheut sich aber auch nicht, sie notfalls kontrovers auszutragen. Bewiesen hat sie das schon gegenüber ihrem vorherigen Arbeitgeber, dem Paket- und Expressdienstleister DPD, der sie vor die Tür setzte, als sie einen Betriebsrat gründen wollte. Dreimal begegnete sie ihm vor Gericht - und ging als Siegerin vom Platz.

Geboren in Kutina, südöstlich von Zagreb, kam Branka als Drittklässlerin nach Deutschland. Daheim hat sie Kroatisch, in der Schule Deutsch gesprochen. Sie hat keine Probleme mit Muslimen; ihre bosnischen Kolleg/innen kennt und schätzt sie schließlich. Der Krieg in den 90er Jahren spiele zwischen ihnen keine Rolle, wenn in der Schwenninger Kneipe "jugoslawische Live-Musik" gespielt wird, sagt Branka.

Vor zehn Jahren starb ihr Mann, ihre drei Kinder musste sie fortan allein erziehen. "Hausfrau und Mutter" hat sie gelernt, "aber wenn ich was gut beherrsche, wird es mir langweilig" - vor allem, weil die beiden Großen inzwischen aus dem Haus sind. Mit ihrer jüngsten, 16-jährigen Tochter Kristina lacht und redet sie gern, wann immer sie es zwischen Betriebsratsvorsitz, dem Beruf als Schichtführerin und der Aufgabe als Vorsitzende der ver.di-Betriebsgruppe "Neue Brief- und Zustelldienste" einrichten kann.

Ein bisschen italienische Spontaneität

Concetta Notonica in Gambino arbeitet seit 1988 bei der Deutschen Post. Dort - und auch in der Stuttgarter Post-Niederlassung - ist die Gewerkschaft traditionell sehr gut organisiert. Der Betriebsrat zählt 27 Mitglieder, die fast alle bei ver.di organisiert sind. Concetta ist in dem Gremium zuständig für die Kolleg/innen des Waiblinger "Zustellstützpunkts mit Leitung" (ZSPL), der sieben zugehörigen "Zustellstützpunkte" (ZSP) und der sieben "Übergabepunkte", die zwischen Vorbereitung und Zustellung der Post geschaltet sind. Einfacher gesagt: für rund 420 Beschäftigte.

Concetta Notonica in Gambino

Täglich kommt sie dort vorbei, übrigens immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Vor sieben Uhr sollte sie da sein, weil die Postzusteller/innen schnell wieder unterwegs sind. Ganz von selbst ergeben sich bei diesen Treffen Gespräche - zum Beispiel über Dienstpläne, Konflikte im Betrieb oder die Entfristung von Arbeitsverträgen.

Concetta Notonicas Präsenz und ihr Einsatz reichen oft schon aus, um Beschäftigte von den Vorzügen einer Mitgliedschaft bei ver.di zu überzeugen. Bisweilen hilft auch ein zusätzlich werbendes Wort. Zwischen Deutschen und Migranten macht sie bei ihren Besuchen keinen Unterschied. Doch die 1965 aus Sizilien Eingewanderte und zweisprachig Aufgewachsene weiß auch, wie man zwischen beiden Welten vermittelt und Missverständnisse ausräumt. Die bei der Post erreichten Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen schätzt sie sehr, aber "Wert haben sie nur, wenn sie eingehalten werden". Deshalb informiert die Betriebratsvorsitzende die Beschäftigten ständig über Rechte und Pflichten: "Hier ist Euer Werkzeug, also nutzt es!"

Bis ins letzte Detail will die 53-jährige Italienerin aber nicht alles geregelt haben: "Es muss auch Platz sein für Spontaneität!" Seit neun Jahren leitet sie den Migrationsausschuss des ver.di-Bezirks Stuttgart. "Aufregend und spannend" findet sie dort den Gedankenaustausch von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Kultur. Vier- bis sechsmal im Jahr treffen sie sich, um mit Fachleuten über Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Migrationspolitik, Ausländerrecht und Integration zu diskutieren.

Concetta ist überzeugt: Nicht Deutschland schafft sich ab, sondern Thilo Sarrazin, der das in seinem Buch behauptet, lenkt ab "von den tatsächlichen Problemen dieser Gesellschaft. Zum Beispiel von den Defiziten in der Bildung und den prekären Arbeitsverhältnissen, unter denen vor allem Migrant/innen zu leiden haben". Integration funktioniere nur, "wenn beide Seiten einander auf Augenhöhe begegnen und miteinander sprechen, ohne die eigene Identität zu verlieren".