DER SOZIOLOGE JEAN ZIEGLER ist Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. Von 2000 bis 2008 war er UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. In seinem jüngsten Buch Wir lassen sie verhungern - Die Massenvernichtung in der Dritten Welt (C. Bertelsmann 2012) nennt er die Gründe für die verheerende Ausbreitung des Hungers

ver.di PUBLIK | Sie führen in Ihrem Buch die unzähligen Stationen im Kampf gegen den Hunger auf, der 1946 von der UNO aufgenommen wurde. Welchen Stellenwert hat das Problem weltweit?

JEAN ZIEGLER | Nach Angaben der Welternährungsorganisation (FAO) verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Rund 57 000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger. Eine Milliarde von uns sieben Milliarden Menschen sind permanent in schwerstem Maße unterernährt und dadurch oft verkrüppelt, verstümmelt oder invalid. Und die Zahlen steigen. Das ist der absolute Skandal unserer Zeit. Der Welt-Ernährungs-Report der FAO, aus dem die Zahlen stammen, sagt, dass die globale Landwirtschaft beim heutigen Entwicklungsstand der Produktion problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der derzeitigen Weltbevölkerung. Das heißt, es gibt keinen objektiven Mangel mehr. Vor hundert Jahren hat es diesen Mangel noch gegeben, doch ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.

ver.di PUBLIK | Weshalb ist die Politik der Vereinten Nationen gegen den Hunger bislang ins Leere gelaufen?

ZIEGLER | Weil es eine Reihe mörderischer Mechanismen gibt. 85 Prozent aller gehandelten Grundnahrungsmittel in der Welt - dabei geht es meist um Mais, Getreide und Reis, die gut drei Viertel des Konsums abdecken - werden von zehn transkontinentalen Gesellschaften kontrolliert. Diese Konzerne funktionieren wie alle transkontinentalen Gesellschaften nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Sie beherrschen den Transport, maritime Flotten, die Silos zur Lagerung, die Preisbildung an den Nahrungsmittelbörsen. Diese Akteure entscheiden jeden Tag, wer isst und lebt oder hungert und stirbt. Diese Monopolisierung auf ökonomischer, finanzieller und politischer Ebene führt dazu, dass die Oligarchie der globalen Nahrungsmittelmärkte eine Macht hat, wie sie nie in der Geschichte der Menschheit ein Kaiser, König oder Papst innehatte.

ver.di PUBLIK | Ist diese Marktentwicklung ein neues Phänomen?

ZIEGLER | Nach dem Zusammenbruch der Finanzbörsen ab 2007 sind die großen Hedgefonds und Großbanken, die Finanzspekulanten, auf die Nahrungsmittelbörsen umgestiegen und machen dort astronomische Profite. Wer Nahrungsmittel importieren muss, und das sind die meisten Länder Afrikas, der muss zahlen. Letztes Jahr haben 54 Länder des afrikanischen Kontinents für 28 Milliarden US-Dollar Nahrungsmittel importiert. Dabei sind von diesen 54 Ländern 38 reine Agrarstaaten mit gutem Boden und Bauernhochkulturen.

ver.di PUBLIK | Der Hunger ist also ein Problem der Finanzspekulation?

ZIEGLER | Nicht nur. Ein weiterer Aspekt sind die Agrartreibstoffe. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben im vergangenen Jahr rund 138 Millionen Tonnen Mais und hunderte Millionen Tonnen Getreide verbrannt, um Bio-Ethanol und Bio-Diesel herzustellen. Es stimmt, dass der Klimawandel von fossilen Brennstoffen beschleunigt wird und dass er, wenn man den fossilen Brennstoff durch Agrartreibstoff ersetzt, gebremst werden kann. Aber es stimmt auch, dass bei einem Ausbau dieser Branche die Abhängigkeit der USA vom importierten Erdöl verringert wird. Die USA brauchen für ihre Industriemaschinerie jeden Tag 20 Millionen Barrel Erdöl ...

ver.di PUBLIK | ... knapp 3,2 Milliarden Liter.

ZIEGLER | Und davon werden gut zwölf Millionen Barrel, also mehr als 60 Prozent, importiert. Diese Einfuhren kommen oft aus gefährlichen Weltgegenden wie dem Nahen Osten, dem Nigerdelta oder Zentralasien. Das zwingt Präsident Barack Obama, eine unglaubliche Militärmacht aufrechtzuerhalten. Deswegen werden der israelische Staat und die ägyptische Armee finanziert. Es ist also verständlich, dass Obama diese Importe herunterfahren möchte, um sie durch Agrartreibstoffe zu ersetzen. Aber auf einem Planeten, auf dem alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, Millionen Tonnen Getreide zu verbrennen, um Treibstoff herzustellen, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit.Ein weiterer Punkt ist der Landraub. Im letzten Jahr haben die multinationalen Gesellschaften sich allein in Afrika 41 Millionen Hektar angeeignet. Dabei spielten auch Korruption und undurchsichtige Kauf- und Pachtverträge eine Rolle, zum Beispiel in Mali: Allein dort sind 1,8 Millionen Hektar an ausländische Investoren gegangen, vor allem im fruchtbaren Niger-Tal. Die Bauern wurden verjagt. Dann wurden Wanderarbeiter herangeholt, unter anderem aus Sri Lanka, damit sie Agrarkonsumgüter zum Export in kaufkräftige Länder wie Saudi-Arabien, nach Westeuropa oder Nordamerika anbauen. Der Landraub durch die transnationalen Konzerne ist mörderisch für die einheimischen Bauern.

Es reicht nie: Nahrungsmittelspenden für die Menschen in Somalia, angekommen im Hafen Berbera

ver.di PUBLIK | Kann diese wirtschaftliche Expansion überhaupt gestoppt werden?

ZIEGLER | Ja, all das kann gestoppt werden. Hunger ist menschengemacht. Das ist kein Schicksal. Karl Marx hat bis zu seinem letzten Atemzug im März 1883 geglaubt, dass das "verdammte Paar" aus Herr und Sklave die Menschheit noch über Jahrhunderte begleiten wird, weil immer noch zu wenige Güter für die gesamte Menschheit vorhanden sein würden. Seine Theorie des Klassenkampfes gründet sich auf diese Annahme. Aber dieser objektive Mangel ist vom Planeten verschwunden - dank einer unglaublichen Folge elektronischer, technischer und industrieller Revolutionen, in deren Verlauf die Produktivkräfte der Menschheit enorm entwickelt wurden. Heute ist das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht, ein Problem der Verteilung und nicht mehr der Produktion.

ver.di PUBLIK | Sie schreiben nach Ihrem langen Engagement in der UNO von den Feinden des Rechts auf Nahrung. Wie und warum wird man zu einem solchen Feind?

ZIEGLER | Die Vereinten Nationen sind gespalten. Die neoliberale Wahnidee - also die Linie etwa der Regierungen von Großbritannien, Australien, den USA, Kanada oder ihrer Söldnerorganisationen wie dem Weltwährungsfonds, der Welthandelsorganisation und der Weltbank - dominiert in der UNO. Jeder US-amerikanische Botschafter, und ich habe fünf aus verschiedenen Regierungen nacheinander erlebt, hat gegen die Erneuerung meines Mandats als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung gestimmt. Ebenso gegen jede meiner Empfehlungen, ob sie nun die Mongolei, Bangladesch oder Guatemala betrafen. Sie taten das nicht aus mangelndem Mitleid, aus Arroganz oder Zynismus gegenüber den Hungernden, sondern weil ihre neoliberale Theorie sagt: Wenn die Märkte einmal total befreit sind, wenn also alle Waren, Dienstleistungs- und Kapitalströme liberalisiert und alle Sektoren privatisiert sind, dann entwickeln sich die Marktkräfte so unglaublich, dass auch der Hunger verschwindet.

ver.di PUBLIK | Das ist die Theorie, und wie sieht die Praxis aus?

ZIEGLER | Jetzt haben wir seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im August 1991 die sogenannte Globalisierung, also die Liberalisierung und Privatisierung der Kapital-, Waren- und Dienstleistungsströme. Das Resultat: In den mächtigsten Staaten konzentrieren sich kleine, aber unglaublich mächtige Finanzoligarchien, und im Süden, wo rund 4,9 Milliarden der sieben Milliarden Menschen leben, wachsen die Leichenberge. Also stimmt etwas nicht an der neoliberalen Weltsicht. Diejenigen, die an ihr festhalten, sind die Feinde des Rechts auf Nahrung. Regierungen, die - wie der Menschenrechtsrat der UNO - für das Recht auf Nahrung eintreten, plädieren daher auch für einen Eingriff in das Marktgeschehen.

ver.di PUBLIK | Gibt es ein Beispiel dafür?

ZIEGLER | Ich nenne Ihnen eine meiner Missionen in Guatemala. Im Jahr meines letztens Besuchs, das war 2008, starben 92.000 Kinder unter zehn Jahren aus der Maya-Bevölkerung an Hunger. Zugleich besitzen dort 1,6 Prozent der Landeigner 67 Prozent des fruchtbaren Landes. Das sind multinationale Gesellschaften und die einheimische Oligarchie. Meine erste Empfehlung an den UNO-Menschenrechtsrat und die UNO-Generalversammlung lautete natürlich, eine Agrarreform durchzusetzen. Diese Empfehlung wurde von der westlichen Koalition unter Führung der USA abgelehnt. Das Einzige, was ich in Guatemala fertiggebracht habe, ist, dass die Weltbank nun vier Helikopter bezahlt. Die werden für eine topografische Erhebung eingesetzt, weil Guatemala nicht einmal ein Grundbuch hat.

ver.di PUBLIK | Was könnte gegen so offensichtliche Fehlentwicklungen unternommen werden?

ZIEGLER | Die Demokratien könnten jeden dieser Mechanismen beseitigen: die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, die Verwendung von Hunderten Millionen Tonnen von Nahrungsmitteln zur Herstellung von Agrartreibstoffen, den permanenten Landraub, also die gewaltsame Enteignung von Bauern in Afrika, Südasien und Lateinamerika durch korrupte Regierungen in Allianz mit Finanzoligarchien, und die Auslandsverschuldung der Länder der Dritten Welt, die jede Investition in die Landwirtschaft verhindert. Sie könnten jeden Mechanismus beseitigen, der den Hunger verursacht, denn all diese Mechanismen sind von Menschen gemacht. Vor allem in einer lebendigen Demokratie wie Deutschland, das zudem die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist, könnten diese Mechanismen schon morgen demokratisch und friedlich beseitigt werden.

ver.di PUBLIK | Wie?

ZIEGLER | Der Bundestag kann das Börsengesetz revidieren und den Börsenhandel mit Grundnahrungsmitteln verbieten. Er kann den Import von Agrartreibstoffen durch eine Änderung des Zolltarifs unterbinden und Finanzminister Schäuble zwingen, bei der nächsten Versammlung des Weltwährungsfonds nicht mehr für die Gläubigerbanken in Frankfurt am Main zu stimmen, sondern für die hungernden Kinder in Äthiopien, in Somalia, in Bangladesch und anderswo einzutreten. Er kann sich für die Entschuldung der ärmsten Länder einsetzen und den Landraub verbieten, sofern er durch multinationale Gesellschaften mit Sitz in Deutschland gedeckt wird. Sie können mir keinen mörderischen Mechanismus nennen, der nicht schon morgen durch die demokratische Öffentlichkeit durchbrochen werden könnte. Es gibt keine Ohnmacht der Demokratie. Alles, was es braucht, ist der Aufstand des Gewissens.

Interview: Harald Neuber

Spekulation mit Nahrungsmitteln

Mit Beginn der Finanzkrise im August 2007 und dem folgenden Zusammenbruch zahlreicher Banken suchten Spekulanten neue Betätigungsfelder. Sie fanden sie in den Rohstoffmärkten, damit auch in Agrarrohstoffen. Auch durch massive Wettgeschäfte auf Ernten und Nahrungsmittelproduktion wurden die Preise binnen weniger Jahre in die Höhe getrieben. An den Börsen nahm der Handel mit Landwirtschaftsderivaten bereits im ersten Krisenjahr 2007 um 32 Prozent zu. So wurde massiv Kapital in den Nahrungsmittelmarkt gepumpt, die Produktion stieg aber nicht. Die Preise wurden ohne realen Gegenwert in die Höhe getrieben. Die Folgen waren verheerend: Die Welternährungsorganisation stellte von Ende 2006 bis März 2008 für die wichtigsten Grundnahrungsmittel einen Anstieg der Preise um 71 Prozent fest.

Der Anteil der Deutschen Bank

Dabei ist allen Akteuren die Gefahr der Spekulation bewusst. Die UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) meldete Bedenken an. Doch die US-Börsenbehörde CFTC sprach sich wiederholt für eine Fortführung der Geschäfte aus.

Die Folgen: An der Chicagoer Börse CME stiegen die Rohstoffgeschäfte zwischen Herbst 2007 und Frühjahr 2008 um 65 Prozent an. Beteiligt war auch die Deutsche Bank, die nach Angaben des globalisierungskritischen Netzwerks Attac gemeinsam mit Goldman Sachs Vorreiter bei der Etablierung sogenannter Index-Fonds im Agrarbereich war. Öffentlich wurde das Thema 2008, als die Deutsche Bank nach heftigen Protesten eine Werbekampagne einstellen musste. "Freuen Sie sich über steigende Preise? Alle Welt spricht über Rohstoffe - mit dem Agriculture Euro Fonds haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten Agrarrohstoffe zu partizipieren", ließ das Kreditinstitut damals auf Brötchentüten in Frankfurt am Main drucken. Bankchef Josef Ackermann musste sich dafür entschuldigen.

Die Nutznießer und die Ausnahmen

Allerdings ist die Deutsche Bank bei den Rohstoffgeschäften nicht allein. Nach einer Auflistung von Attac sind auch die Commerzbank, die ING DiBa und selbst Volks- und Raiffeisenbanken sowie Sparkassen in die Rohstoffgeschäfte verwickelt. In einzelnen nachgewiesenen Fällen wurden so Landraub (Landgrabbing) und die gewaltsame Vertreibung von Bauern befördert. Nur kleinere Banken wie die GLS Bank, die Triodos-Bank, die UmweltBank oder die EthikBank lehnen diesen Handel ab.