Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel

ver.di PUBLIK | Die Schweiz gilt bis heute als reiches Land...

UELI MÄDER | Ja, wobei es ein sehr einseitig verteilter Reichtum ist. Es gibt auch in der Schweiz eine enorme Konzentration des Kapitals in den Händen von immer weniger Menschen. In den 1950er, 1960er Jahren haben noch breitere Bevölkerungskreise von der Zunahme des Reichtums profitieren können.

ver.di PUBLIK | Was ist dann passiert?

MÄDER | Seit Ende der 80er Jahre geht das Kapital sehr viel offensiver in jene Bereiche, in denen es sich maximal vermehren kann. Das ist ein Regimewechsel von einem politisch-liberalen Verständnis hin zu einem neoliberalen Verständnis angelsächsischen Typs. Hier ist das Kapital ganz zentral.

ver.di PUBLIK | Warum geht mittlerweile auch in der Schweiz die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander?

MÄDER | Seit dieser Zeit haben wir eine Zunahme der Erwerbslosigkeit. Wir haben Löhne, die zwar im Durchschnitt steigen, aber gerade bei den unteren zehn Prozent der verfügbaren Einkommen stellen wir erhebliche Einbrüche fest. Das System der sozialen Sicherung ist zwar relativ gut, hält aber mit dem Wandel der Lebensformen nicht mit. Es orientiert sich an Vollzeitbeschäftigung, an klassischen Familienkonstellationen. Daneben gibt es eine Konzentration der Vermögen. Und die Anteile der sozialen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt sinken seit 2004. Auch, weil sich das politische Kräfteverhältnis verschoben hat.

ver.di PUBLIK | Woran liegt es, dass es in der Schweiz ebenso wie Deutschland trotz der zunehmend ungerechteren Verteilung recht ruhig bleibt?

MÄDER | "Jeder ist seines Glückes Schmied" oder "Wo ein Wille, da ein Weg" - das sind Mythen, die recht wirksam sind. Die Illusion des Leistungsprinzips wird weiter betrieben, obwohl viele Menschen die Erfahrung machen, dass dieses Prinzip Lügen gestraft wird. Erwerbstätige Arme erleben täglich, wie wenig sich Leistung lohnt.

ver.di PUBLIK | Wieviel Reichtum verträgt eine Gesellschaft?

MÄDER | Anfang der 90er Jahre haben wir bei Armutsstudien noch festgestellt, dass die Bereitschaft von sozial Benachteiligten sehr groß ist, ganz viel auf ihre eigenen Schultern zu nehmen. Heute gibt es eine größere Transparenz über der sozialen Ungleichheit. Das bedeutet, dass sich das Resignative, Verstimmte etwas verkehrt in Richtung Empörung. Bei neueren Studien habe ich den Eindruck, dass diese Wut stärker spürbar ist. Ich will das aber nicht überhöhen mit revolutionären Erwartungen.

ver.di PUBLIK | Spielt nicht auch die Politik dabei mit, indem sie zum Beispiel arbeitslosen Jugendlichen vorwirft, sie seien selbst Schuld an ihrer Situation?

MÄDER | Ja, rechts-bürgerlichen Strömungen gelingt es schon, Schuld auf die Betroffenen abzuwälzen. Das wird teilweise durch die Medien verstärkt. Aber auch die Wissenschaft muss ich in die Pflicht nehmen. Bei vielen Untersuchungen werden weite Teile der Armutsbevölkerung einfach wegdefiniert. Auch das prägt die öffentliche Diskussion.

ver.di PUBLIK | Spricht man in Deutschland von umverteilen, sagen viele, die Reichen hätten sich ihr Geld doch verdient, man solle sie nicht behelligen mit einer Vermögens- oder Erbschaftssteuer. Was antworten Sie denen?

MÄDER | Ich würde die Fragen andersherum stellen: Wieviel Reichtum können wir uns eigentlich erlauben? Er ist kontraproduktiv, auch, weil er etwas Demotivierendes hat.

ver.di PUBLIK | Wie schaffen die Reichen es, ihre Vorzugsbehandlung zu erhalten?

MÄDER | Die Reichen haben ökonomisches Kapital, sind sozial sehr stark vernetzt und besitzen starke Medien-Monopole. Ihre kulturelle Vorherrschaft zeigt sich auch darin, wie sich in der Bildung soziale Ungleichheiten reproduzieren. Kinder, deren Eltern eine akademische Ausbildung haben und über mehr Kapital verfügen, haben eine sechs Mal höhere Chance, ein Abitur zu erlangen. Auch viele Produktionsmittel sind in den Händen von Reichen. Das heißt, dass Abertausende von Arbeitnehmenden auf Gedeih und Verderb einseitig abhängig sind.

ver.di PUBLIK | Was kann man tun, damit diese Entwicklung gestoppt wird?

MÄDER | Kapital und Arbeit sollten mindestens in einem ausgewogenen Verhältnis sein. Das wäre ein Schritt, dieses neoliberale kapitalorientiere Abheben etwas zurückzudrängen. Vom System her hievt das die Welt noch nicht aus den Angeln.

Sonst sind die gewerkschaftlichen Forderungen wichtig. Sie tragen dazu bei, dass Arbeit und Erlös gerechter verteilt werden, dass vor allem die unteren Einkommen angehoben und die oberen heruntergefahren werden. Wichtig sind auch Mindestlöhne.

Das demokratische Korrektiv müsste gestärkt werden gegenüber einer Wirtschaft, die auch im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise noch an Macht zulegt. Es kann nicht sein, dass Demokratie vor den Pforten der Wirtschaft Halt macht. Heute reden viele von Vorbilddemokratie in der Schweiz, aber was wirtschaftlich passiert, geschieht oft schier im Alleingang. Die Wirtschaft instrumentalisiert die Politik.

Es ist auch wichtig, neue Formen der Beteiligung zu schaffen. Es gibt viele neue soziale Bewegungen, auch im Kleinen. Einzelne Altlinke haben vielleicht den Eindruck, das sei etwas apolitisch. Das bezieht aber die Leute selbstbestimmt ein, sie machen konkrete Erfahrungen, und das erhöht ihre Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit.

Interview: Heike Langenberg

Vom 24. bis zum 26. Mai veranstalten ver.di und andere Organisationen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Berlin den Kongress "Umverteilen.Macht.Gerechtigkeit". Ueli Mäder ist einer der Referenten.

www.umverteilen-macht-gerechtigkeit.eu

"Es kann nicht sein, dass Demokratie vor den Pforten der Wirtschaft Halt macht"