Ausgabe 04/2013
„Wir brauchen keine Leitkultur“
"Wir brauchen keine Leitkultur"
Kutlu Yurtseven, 40 Jahre alt, Musiker aus Köln, gründete 1989 die HipHop-Band Microphone Mafia. Ist aktiv in der Jugendarbeit und gegen Neonazis. War sechs Jahre Lehrer in Gelsenkirchen, arbeitet heute an einer Sekundarschule in Hilden.
Kutlu Yurtseven hat sich oft anhören müssen, dass er nicht hierher gehört. Mal hat man es ihm direkt ins Gesicht gesagt, so wie der Mann auf dem Einwohnermeldeamt, der ihm drohte, ihn bei der ersten Verfehlung abschieben zu lassen. Noch öfter aber wurde ihm indirekt mitgeteilt, dass dieses Land, das er sein Zuhause nennt, keinen großen Wert auf seine Anwesenheit legt. So wie an diesem Tag vor genau 20 Jahren, als in Solingen ein Haus brennt. Fünf Menschen sterben. Fünf Menschen, die Hülya, Gülüstan, Hatice, Gürsün und Saime heißen. Menschen mit, wie Wohlmeinende es heute nennen, Migrationshintergrund, einem Hintergrund wie Kutlu Yurtseven.
Der von rechtsgerichteten Jugendlichen verübte Brandanschlag von Solingen war deshalb so schockierend, sagt der in Köln-Porz geborene, in Köln-Flittard aufgewachsene und nun in Köln-Kalk lebende Yurtseven, "weil er vor unserer Haustür stattfand - nicht weit weg irgendwo im Osten". Vor allem aber zeigte es dem damals 20-Jährigen, "wie machtlos und wehrlos man ist".
Solingen, das war ein prägendes Ereignis für Kutlu Yurtseven. Es hat sein Verhältnis zu diesem Land bestimmt, es hat ihm ein Thema gegeben, das er als Musiker umsetzt, und es hat dazu beigetragen, dass er sich seit Jahren in der Jugendarbeit engagiert. Nicht zuletzt hat es auch dafür gesorgt, dass Kutlu Yurtseven heute hier ist, im Theater von Solingen.
20 Jahre nach dem Brand gedenkt die Stadt der Opfer. In der Lobby hängt ein Transparent: "Das Problem heißt Rassismus." Verbände haben ihre Stände aufgebaut, die Arbeiterwohlfahrt ist da und die Evangelische Kirche Solingen, die Naturfreunde und die "Schülerinnen und Schüler gemeinsam gegen Rassismus und Faschismus". Junge Menschen tragen T-Shirts, auf denen in Türkisch und Deutsch steht: "Lasst uns Freunde sein." Bei der vormittäglichen Pressekonferenz hat Mevlüde Genc, die vor 20 Jahren zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte in den Flammen verlor, gesagt: "Es ist ein Schmerz, der immer noch sehr, sehr tief sitzt."
Ein paar Stunden später sind vielleicht noch 50 Zuhörer im Saal. Die Stimmung ist gedämpft. Kutlu Yurtseven klettert auf die Bühne, hantiert kurz an einem Gerät, aus den Lautsprechern dröhnen HipHop-Beats. "Die Musik ein bisschen lauter", weist er den Techniker an, "die Texte sind total unwichtig." Er lacht, die meisten im Publikum schmunzeln. Das Eis ist gebrochen.
Natürlich sind die Texte nicht unwichtig. Sie sind der Grund, warum die Veranstalter des Gedenktages Yurtseven eingeladen haben. Seit mehr als 20 Jahren berichtet der mittlerweile 40-Jährige rappend aus seinem Leben. 1989 gründete er zusammen mit drei Schulfreunden die Band Microphone Mafia. Es ist die Aufbruchzeit des HipHops in Deutschland, vor allem migrantische Jugendliche aus sogenannten Problembezirken bedienen sich der aus den USA importierten Kunstform, um ihre Gefühle und Lebensumstände auszudrücken. Drei Jahre später haben die Fantastischen Vier mit Die da!? ihren ersten Hit, Rap wird in den bundesrepublikanischen Mainstream aufgenommen.
Rappen gegen Rechts
Auch Microphone Mafia unterschreiben einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma und können plötzlich "gut von der Musik leben", für einzelne Auftritte gibt es schon mal mehrere Tausend Mark. Sie rappen in Deutsch, Italienisch, Englisch und Kölsch von Diskriminierung, gegen Rechtsradikale und für Solidarität. "Aber schon nach der ersten Single war klar, dass die uns wieder loswerden wollen", sagt Kutlu, "es hieß, wir seien nicht medienkompatibel." Der Wind hatte sich gedreht, die Zusammensetzung der Gruppe aus Türken, Italienern und Deutschen war in der restaurativen Stimmung nach der Wiedervereinigung kein Pluspunkt mehr. Rapper, die aus Einwandererfamilien stammen, stürmen erst in den Jahren ab 2000 die Charts: Sie heißen Bushido oder Sido und erschrecken die Mehrheitsgesellschaft mit Sexismus, Gewalt und Homophobie.
Das kommerzielle Abenteuer der Microphone Mafia endet dagegen nach nicht einmal zwei Jahren. Die Band zerbricht beinahe daran, macht in kleinerem Rahmen aber weiter. "Wir haben es nie geschafft, ganz einfach als Rapper wahrgenommen zu werden, wir sind immer die Multikulti-Rapper geblieben", sagt Kutlu, "aber ich bereue es nicht, dass das damals nicht geklappt hat. Der Erfolg ist uns nicht gut bekommen, wir fingen an, großkotzig zu werden."
Heute ist die Microphone Mafia nur noch ein Duo aus Kutlu und seinem alten Freund Signore Rossi, aber zusammen mit den Fanta 4 die dienstälteste HipHop-Band Deutschlands. Vom durchschnittlichen HipHop-Konsumenten werden sie ignoriert, ihr Publikum kommt aus linken, politisch engagierten Zusammenhängen. Die meisten Anfragen, bei Benefizveranstaltungen oder Soli-Konzerten aufzutreten, muss die Band aus Zeitmangel absagen.
An Jugendliche etwas weitergeben
Auf der Bühne im Solinger Theater ist Kutlu Yurtseven in seinem Element. Der erste Song handelt von seinem Vater, der Ende der 60er Jahre aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, als sogenannter Gastarbeiter. Im zweiten Song erzählt Yurtseven aus seinem eigenen Leben zwischen dem Land, dessen Pass er besitzt und das er Heimat nennt, und dem Land, in dem er lebt und das für ihn Zuhause ist. "Wir brauchen keine Leitkultur", rappt Kutlu, "wir wollen Respekt." Die Zuhörer klatschen im Takt. Seine Familie, sagt Kutlu, sei vor allem dafür verantwortlich, dass aus ihm nicht - wie aus anderen mit vergleichbaren Startbedingungen - ein Gangsta-Rapper geworden ist. Die Erziehung war streng, aber liebevoll. Zudem war der im vergangenen Jahr verstorbene Vater gewerkschaftlich engagiert und im Betriebsrat bei Ford. Er hat ihn, erinnert sich Kutlu lächelnd, mitgenommen zur ersten großen Demo für die 35-Stunden-Woche. 13 Jahre alt war er damals. Ende der 90er Jahre entdecken dann Jugendarbeiter und Gewerkschaftsfunktionäre die von der Musikindustrie vergessene Microphone Mafia. Gewerkschaften - immer wieder auch ver.di - engagieren Kutlu für Veranstaltungen, Podiumsdiskussionen oder Rap-Workshops. Dort bringt er Jugendlichen bei, was er selbst in jungen Jahren gelernt hat: Dass der Rap eine großartige Möglichkeit ist, die eigenen Gefühle in kreative Bahnen zu leiten.
Und es bleibt nicht bei den Workshops. An einer Förderschule, sagt er, "habe ich mich schließlich irgendwann in den Deutschunterricht eingeklinkt". Sechs Jahre lang bleibt Kutlu Yurtseven Lehrer in Gelsenkirchen, wechselt dann nach Hilden. Seit zwei Jahren baut er hier als stellvertretender Koordinator an einer Sekundarschule die Nachmittagsbetreuung mit Medien- und Kulturwerkstatt auf.
ver.di-Workshop über den NSU
Neben der Arbeit und obwohl er Mitte Juni zum zweiten Mal Vater wird, engagiert sich Kutlu weiter mit großem Einsatz. Mittlerweile hat er mehrere Songs für Kampagnen geschrieben, leitet immer wieder Workshops und hat zuletzt Anfang dieses Jahres die Film-Reihe Vom Mauerfall zur Nagelbombe organisiert. Kutlu wohnte in der Kölner Keupstraße, als der Nationalsozialistische Untergrund, NSU, dort im Juni 2004 die Nagelbombe zündete, die 21 Menschen verletzte: Wieder so ein Moment, in dem ihm dieses Land zu sagen schien, dass er hier nichts verloren hat. Dass er sich wehren, dass er aufklären muss. So wie beim ver.di-Seminar Anfang Juli im Bildungszentrum Mosbach. Es heißt "Der NSU-Komplex - Entwicklungen des Rechtsextremismus in Deutschland seit 1990". Kutlu wird als Experte und Betroffener über den rechtsradikalen Terror referieren.
"Solingen war meine politische Sozialisierung", sagt er, "wir haben gespürt, wir müssen uns wehren, damit die Nazis merken, sie können sich nicht alles erlauben. Damals haben wir gedacht, dass wir zehn Jahre später nicht mehr über Rassismus rappen müssen. Aber dann kam der NSU."
In Solingen ist sein Auftritt nach nur drei Liedern wieder vorbei, die Veranstalter sind in Zeitverzug. Nicht schlimm, sagt Kutlu, es war wichtig, hier zu sein. Um allen, die gesagt haben, dass er hier nichts zu suchen hat, und denen, die das immer noch sagen, zu beweisen, dass Kutlu Yurtseven doch hierher gehört.
"Wir haben gespürt, wir müssen uns wehren, damit die Nazis merken, sie können sich nicht alles erlauben. Damals haben wir gedacht, dass wir zehn Jahre später nicht mehr über Rassismus rappen müssen.