von Jörn Boewe und Johannes Schulten

Sie sind zu wenige auf den Stationen. Das wollen die Charité-Beschäftigten ändern, auch mit Streiks

"Das Pflegeteam der Station M202a kann diese Arbeitssituation nicht mehr verantworten", schrieben die Krankenschwestern und -pfleger des Berliner Universitätsklinikums Charité im März 2014 an ihre Vorgesetzten. Eine Pflegekraft versorge tagsüber 12 Patienten, nachts sogar 22: "Da bleibt die Patientenversorgung auf der Strecke."

Briefe wie dieser liegen bei der Charité-Leitung stapelweise auf dem Tisch. Von einer Situation "wie auf einem Verschiebebahnhof" ist darin die Rede, von "chronischer Unterbesetzung", von "Zeitdruck, Hetze und Eile am Patienten". Von "gefährlicher Pflege" und vom "steigenden Risiko, Fehler zu machen". Zahlreiche Teams und ganze Stationen aus Europas größter Universitätsklinik haben in den letzten zwei Jahren solche Notrufe an ihre Vorgesetzten verfasst. Im Kern laufen alle auf dieselbe Botschaft hinaus: Die Situation ist nicht mehr tragbar, weder für die Beschäftigten noch für die Patienten und deren Angehörige.

Lange wurden die Sorgen der Beschäftigten ignoriert. Das System der Krankenhausfinanzierung lasse keinen Spielraum für mehr Personal, hieß es, oder: In anderen Krankenhäusern sei die Situation auch nicht besser. Nach unzähligen Gesprächen, Teamsitzungen, Überlastungsanzeigen "scheinen wir gegen eine Wand zu laufen", heißt es in einem der Notrufe.

Fast 100 Prozent für Streik

Doch die vermeintliche Alternativlosigkeit wollten die Beschäftigten nicht hinnehmen. Nun haben sie zur Ultima ratio gegriffen: Sie starten einen unbefristeten Streik, nicht für mehr Geld, sondern für mehr Personal auf den Stationen. Oder, wie Krankenschwester und Tarifkommissionsmitglied Dana Lützkendorf es formuliert: "Wir streiken, damit wir wieder unsere Arbeit machen können." In der Urabstimmung sprachen sich Anfang Juni 96,4 Prozent der ver.di-Mitglieder für den Arbeitskampf aus. Am 22. Juni soll es losgehen mit den Streiks. "Wir sehen keine andere Möglichkeit mehr, eine Verbesserung der untragbar gewordenen Situation zu erreichen", sagt Lützkendorf.

Dana Lützkendorf

Mit dem Arbeitskampf erreicht ein seit über zwei Jahren andauernder Konflikt seinen bisherigen Höhepunkt. Seit 2013 fordert die Gewerkschaft an der Charité einen Mindestbesetzungstarifvertrag: Eine Pflegekraft soll auf einer Normalstation nicht mehr als fünf Patienten betreuen, auf Intensivstationen zwei. Nachts soll niemand mehr allein auf einer Station eingesetzt werden.

Hunderte waren schon auf der Straße

Die Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen an der Charité ist hoch - das haben sie zuletzt bei einem zweitägigen Warnstreik Ende April bewiesen: 500 Schwestern und Pfleger beteiligten sich daran, zur Abschlusskundgebung kamen 1500 Leute. Die Klinikleitung musste rund 400 Behandlungen absagen. Die Kosten für die Charité beliefen sich auf rund eine Million Euro pro Streiktag. Für den unbefristeten Streik rechnet ver.di-Sekretär Kalle Kunkel sogar mit einer noch höheren Durchschlagskraft: "Wir gehen davon aus, dass 25 Prozent der Charité-Betten nicht belegt werden können. Das wären 750 Krankenbetten."

Druck wird zweifellos nötig sein. Denn die Charité zeigt sich bisher uneinsichtig. Vorstandschef Karl Max Einhäupl hatte am 22. Mai gegenüber der Berliner Morgenpost zwar eingeräumt, Pflegekräfte würden "oft am Limit arbeiten". In der Sache verwies er die Problematik jedoch an die Politik: "Die Forderung nach flächendeckenden Quoten ist eine politische Forderung, für deren Umsetzung man politische Regelungen und eine einheitliche Finanzierung braucht."

"Einhäupl redet sich heraus", sagt Kalle Kunkel, "der finanzielle Spielraum ist da." Die Charité hat das letzte Haushaltsjahr mit einem Gewinn von 7,6 Millionen Euro abgeschlossen. Und auch durch die von der Bundesregierung geplante Krankenhausreform werden weitere Einnahmesteigerungen erwartet. "Mit dem Tarifvertrag können wir absichern, dass das Geld, das an die Charité fließen wird, auch wirklich für eine Verbesserung der personellen Ausstattung genutzt wird", so Kunkel.

Unter dem Druck der Beschäftigten regt sich nun auch - langsam und spät - die Politik. Berlins Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) kündigte kürzlich an, Regelungen zur Personalbesetzung in der Intensivpflege in den Landeskrankenhausplan aufnehmen zu wollen. "Zwar wird es sich dabei nur um Soll-Bestimmungen handeln, trotzdem wäre es ein Fortschritt", sagt ver.di-Sekretär Kalle Kunkel. Jedenfalls zeige die Ankündigung des Senators, "dass unsere Proteste schon jetzt einen Effekt haben".