Ausgabe 02/2016
Besser ohne Selbstausbeutung
Von Heike Langenberg
In der stationären Altenpflege fehlen qualifizierte Beschäftigte. Die Versorgung der Pflegedürftigen sei schon heute nur noch durch Selbstausbeutung möglich, sagt ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. Der Notruf bei der Feuerwehr, den eine Pflegerin im Berliner Stadtteil Rudow Ende vergangenen Jahres absetzte, zeige da nur die Spitze eines Eisbergs. Die Aushilfskraft fühlte sich allein mit 21 hochgradig Pflegebedürftigen schlicht überfordert.
Bühler geht davon aus, dass es schon heute rund 30 bis 40 Prozent zu wenig Pfleger/innen sind. Bei einem Personalcheck wurde allein für Baden-Württemberg ein Bedarf von 20.000 zusätzlichen qualifizierten Kräften ermittelt. Bezieht man die demografische Entwicklung mit ein, müssten bis 2030 jährlich 10.000 neue Pfleger/innen ausgebildet werden. Doch ist es nicht leicht, junge Menschen für einen, so Bühler, "wunderbaren Beruf" zu begeistern, der jedoch hohe Belastungen mit sich bringt und dafür schlecht bezahlt wird.
Pflege ist nicht gleich Pflege
ver.di hat ein Gutachten zur gesetzlichen Personalbemessung in der stationären Altenpflege bei Stefan Greß und Klaus Stegmüller, Professoren am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda, in Auftrag gegeben. Das zeigt: Pflege ist nicht gleich Pflege. Die beiden Wissenschaftler haben sich intensiv mit den USA beschäftigt, aber nicht, weil deren Situation in der Altenpflege optimal ist. Allerdings gilt dort seit 1987 ein landesweiter Standard für die Personalbemessung in Pflegeheimen. Es ist nur ein Mindeststandard, 37 Bundesstaaten haben mittlerweile weitergehende Standards etabliert. Diese unterscheiden sich insbesondere im Hinblick darauf, wie viele Stunden direkter Pflegeleistung pro Tag erbracht werden müssen.
Eingestellt wurden in den USA vornehmlich Pflegehilfskräfte, und das hat Auswirkungen auf die Qualität der Pflege. "Positive Effekte auf die Pflegequalität lassen sich nur dann messen, wenn die gesetzliche Personalbemessung auch zur Neueinstellung von Registered Nurses - also den Pflegekräften mit dem höchsten Qualifikationsniveau - führt", heißt es in der Studie. Diese Standards müssten jedoch auch wirkungsvoll überprüft und hinreichend finanziert werden, sagen die Forscher mit Blick auf Deutschland.
Vorschlag: Pflegepersonalfonds
Hierzulande ist das Verhältnis zwischen Pflegebedürftigen und Ausstattung mit Pflegefachkräften je nach Bundesland recht unterschiedlich. In allen gilt jedoch, dass die mit einer höheren Zahl an Pflegefachkräften verbundenen Kosten von Versicherungsträgern, Trägern der Sozialhilfe und den Pflegebedürftigen selbst finanziert werden müssten. Greß und Stegmüller schlagen vor, den im sogenannten Pflegestärkungsgesetz I eingerichteten Pflegevorsorgefonds ab sofort in einen Pflegepersonalfonds umzuwidmen, aus dem nachweisbar nach dem 1. Januar 2016 neu eingestelltes Personal in der direkten Pflege in stationären Einrichtungen finanziert werden soll. Mit 1,2 Milliarden Euro jährlich könnten pro Jahr 38.000 neue Stellen finanziert werden, die Hälfte von ihnen Fachkräfte.
"Geld ist da, das auch in Ausbildung investiert werden sollte, statt es anzusparen", sagt Dietmar Erdmeier vom Bereich Gesundheitspolitik des ver.di-Bundesvorstands. Er begrüßt, dass die Studie den Zusammenhang zwischen Deprofessionalisierung und einer Verschlechterung der Pflegequalität deutlich macht. Bei der Vorstellung des Gutachtens sprachen sich Hilde Mattheis, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, und Elisabeth Scharfenberg, Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, für den vorgeschlagenen Personalfonds aus. Pia Zimmermann, pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linken, wies darauf hin, dass nicht allein mehr Personal Abhilfe schaffe, hier müsse auch eine Fachkräftequote greifen.
Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, CDU, wies darauf hin, dass die derzeitige Situation das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Kostenträgern und Einrichtungen in den Bundesländern sei. Seit der jüngsten Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs stünden 800 Millionen Euro zusätzlich allein für den stationären Bereich zur Verfügung. Verwende man es für Personal, würde das 20.000 zusätzliche Stellen bedeuten. Hier müssten die Kostenträger aufstocken, so der Politiker. Auf der Basis des Gutachtens will ver.di die politische Debatte weiter vorantreiben.