Meisterbriefe werden übergeben

Als Gewerkschaftssekretärin für den ver.di-Bereich Besondere Dienstleistungen ist Andrea Germanus einiges gewöhnt, wenn es um Tariftreue und Bezahlung von Beschäftigten geht. Aber manchmal ist sie dann doch verblüfft; so angesichts eines Falles im sachsen-anhaltinischen Halle an der Saale. In der dortigen Handwerkskammer wird nach einem Zwei-Klassen-System bezahlt, seit die Kammer im Jahr 2008 aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten ist. Damit unterliegen neu eingestellte Beschäftigte nicht dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) wie die Kolleginnen und Kollegen mit älteren Verträgen. Und das bringt gravierende Unterschiede in Sachen Gehalt: Um mehrere hundert Euro unterscheide sich die Vergütung der Mitarbeiter OT, also ohne Tarifvertrag, von den Gehältern der Beschäftigten mit Altverträgen, sagt Andrea Germanus. Das habe dazu geführt, "dass die Mitarbeiter mit Verträgen ohne Tarifbindung zwischen 500 und 800 Euro weniger verdienen als diejenigen, die noch einen alten Vertrag haben".

Persönliches Entgeltsystem, vom Chef entworfen

Andrea Germanus erklärt, die Handwerkskammer habe ihren damaligen Austritt aus dem Tarif damit begründet, "dass man so freier verhandeln und sich am Markt besser behaupten" könne. Sie glaube sogar, "dass das damals vom Vorstand der Kammer ernst gemeint war". Dann aber habe der damalige Hauptgeschäftsführer "nach Gutsherrenart ein persönliches Entgeltsystem entworfen" und begonnen, die Löhne der neu eingestellten Mitarbeiter zu drücken.

Viele der Beschäftigten empfinden das als ausgesprochen unfair. Die Handwerkskammer sei eine Körperschaft öffentlichen Rechts, sagt eine Mitarbeiterin, "und dann agiert man so, als würden die Gesetze nicht für uns gelten. Dass hier sowas passiert, ist ein Unding". Ein weiterer langjähriger Mitarbeiter, der seinen Namen vorsichtshalber ebenfalls nicht nennen möchte, sagt, es könne "nicht angehen, dass die Mitarbeiter immer dann, wenn es um Gehaltserhöhungen oder Leistungszuschläge geht, auf individuelle Betteltour gehen müssen". Inzwischen habe der neue Geschäftsführer zwar erkannt, dass das aktuelle Entgeltsystem mit vollkommen frei verhandelten Gehältern ungerecht sei.

Allerdings: Was der Geschäftsführer fair oder unfair finde, sei das eine. Das andere sei der Fakt, dass der Vorstand der Handwerkskammer sich aus Vertretern des Handwerks zusammensetze: "Und da kommt bei Lohnsteigerungen für die Mitarbeiter der Kammer schnell der Satz, in der Handwerkskammer werde das Geld der Betriebe verplempert." Und deshalb komme die eigentlich vom Hauptgeschäftsführer versprochene Angleichung der Verträge an den Tarifvertrag der Länder nun doch nicht.

Hoher Druck - und mehr ver.di-Mitglieder

Auch wenn sich aus Angst um die Stimmung vorsichtshalber niemand in der Zeitung mit seiner Kritik zitieren lassen möchte: Der Druck in der Handwerkskammer Halle ist hoch. Und der Anteil der ver.di-Mitglieder in der Kammer ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen: 35 Prozent der 156 Beschäftigten gehören inzwischen der Gewerkschaft an. Und das sei die Anzahl, die nötig sei, um mit der Kammer in Verhandlungen über einen Tarifvertrag zu treten, sagt Germanus. Eigentlich. Doch die Antwort der Handwerkskammer verblüfft selbst die erfahrene ver.di-Sekretärin: "Die Zuständigen haben einfach gesagt: Nö, wir verhandeln nicht." Dabei sei es in den Sondierungsgesprächen noch gar nicht um inhaltliche Fragen gegangen, sondern nur darum, wer am Verhandlungstisch zusammenkommen solle.

Die Gewerkschafterin hält Verhandlungen und einen Tarifvertrag für dringend nötig. "Die Idee, 156 Einzelverträge mit jedem Kollegen einzeln zu diskutieren, das ist doch ein Irrsinn", sagt Andrea Germanus. Geschäftsführung und Vorstand wollen einfach nicht mit verdi verhandeln, heißt es aus den Reihen der Beschäftigten. Denn von der Gewerkschaft kommt viel grundsätzliche Kritik an den Positionen des Präsidenten der Handwerkskammer, eines Landtagsabgeordneten, dessen Positionen aus der Sicht von ver.di häufig nicht nachvollziehbar seien, sagt Germanus. "Wir haben jetzt die Situation, dass bestimmte Berufe in Sachsen-Anhalt nicht mehr ausgebildet werden und für viele Bereiche keine Ausbilder mehr gefunden werden. Das ist gerade in einer wirtschaftsschwachen Region wie der unseren das Falsche." Die Handwerkskammer selbst will sich zu der ganzen Sache nicht äußern. Zu einer "schwebenden Angelegenheit" gebe man keinen Kommentar ab, heißt es auf Anfrage.

Nur mit meiner Gewerkschaft

Doch die Beschäftigten wollen die Hoffnung auf eine vernünftige Lösung nicht aufgeben. "Mit extremen Forderungen kommen wir keinen Schritt weiter", sagt ein Mitglied der neu gegründeten Tarifkommission. Auf ver.di am Verhandlungstisch wolle man aber keinesfalls verzichten - auch, weil man dort nicht nur aufs Gehalt allein schaue, sondern auch auf soziale Aspekte achte, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Alltag oft gar nicht mehr auffielen. "Und außerdem", sagt er, "ist die Gewerkschaft einfach der natürliche Partner, wenn es um Tarifverhandlungen geht".