Die bundesweiten Arbeitsniederlegungen im Handel haben sich gelohnt: In zwei Stufen gibt es 2019 und 2020 fast 5 Prozent mehr Lohn

Wenn Beschäftigte aus dem Handel auf die diesjährige Tarifbewegung zurückschauen, fällt schnell der Satz: „Wer nicht dabei war, hat was verpasst.“ Die Freude über den gemeinsamen Mut zur öffentlichen Aktion hallt bei vielen nach. Und auch die Ergebnisse können sich sehen lassen: In zwei Stufen werden die Löhne und Gehälter 2019 und 2020 um insgesamt fast 5 Prozent erhöht.

Begonnen hatte es kurz vor Ostern mit ersten Arbeitsniederlegungen, die sich danach zu immer neuen Schwerpunktstreiks entwickelten. An einigen Kundgebungen – so in Dortmund, Düsseldorf und München – nahmen jeweils mehrere tausend Kolleginnen und Kollegen teil. „Das war eine der besten Streikbewegungen, die wir im Handel bisher erlebt haben“, sagt Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel. „Wir konnten die Arbeitgeber an einigen Stellen sehr empfindlich treffen, wobei die Kampfkraft je nach Tarifregion beziehungsweise Unternehmen noch sehr unterschiedlich ist.“

Stärke durch 11.000 neue Mitglieder

Stärker wurde ver.di zweifellos durch die Gewinnung von rund 11.000 neuen Mitgliedern, davon auffällig viele beim Kaufhof. Das mit Karstadt fusionierte Warenhaus-Unternehmen hatte im Frühjahr die Tarifbindung aufgekündigt, was viel Wut hervorrief.

Zu ersten Abschlüssen, die in den wesentlichen Punkten auch von fast allen anderen Tarifbezirken übernommen wurden, kam es Ende Juni/Anfang Juli in Nordrhein-Westfalen.

Im Groß- und Außenhandel werden die Entgelte in diesem Jahr um 3 Prozent erhöht und im nächsten um 1,9 Prozent. Ausnahme ist Bayern, wo bei einer 25-monatigen Laufzeit des Tarifvertrages für das zweite Jahr 2 Prozent vereinbart wurden. Die Ausbildungsvergütungen steigen pro Jahr überall um jeweils 70 Euro. Für starke Proteste sorgten noch kurz vor Redaktionsschluss die Großhandelsarbeitgeber im Saarland, die das Niveau der anderen stark unterschreiten wollen.

Die Tarifvereinbarungen für den Einzelhandel sind breiter gefächert: Das Plus von 3 Prozent im ersten Jahr gilt bis zur Endstufe der Verkäuferin mit einem Brutto zwischen 2.540 und 2.583 Euro je nach Bundesland. Wer darüber liegt, bekommt in den meisten Regionen einen Festbetrag von 77,50 Euro. Für alle Beschäftigten gibt es dann im nächsten Jahr eine 1,8-prozentige Erhöhung. Insgesamt ist das eine stärkere Anhebung der unteren Tarifgruppen. „Das war ein wichtiges Ziel in dieser Tarifrunde“, sagt ver.di-Verhandlungsführerin Silke Zimmer aus Nordrhein-Westfalen. Auch die Vergütungen der Auszubildenden steigen dort überproportional.

Zu den Höhepunkten der Tarifbewegung gehörten bundesweite Arbeitsnie-derlegungen in über 160 Kaufland-Filialen mit einer zentralen Kundgebung vor der Zentrale in Neckarsulm. Für Schlagzeilen sorgten auch Streiktage bei tariflosen Unternehmen wie Amazon, dm, Kaufhof, Karstadt Sports, Obi sowie Real. Für sie alle kehrt keine Ruhe ein: Das Ziel Anerkennungstarifverträge steht.

Bestreikt wurden in diesem Jahr schon viele Filialen von Galeria Karstadt Kaufhof. Geht es ver.di bei Kaufhof darum, die Tarifflucht rückgängig zu machen, so werden für Karstadt bessere Gehaltssprünge gefordert. Nur so kann dort das für April 2021 vereinbarte volle Niveau der Flächentarifverträge erreicht werden. Ein starkes Signal der Solidarität gab im Juni eine Menschenkette zwischen beiden Warenhäusern in Fulda. Und die Aktionen zeigen Wirkung: „Wir schicken ja von überall Menschen quer durch die Republik, um in den bestreikten Häusern den Betrieb aufrecht zu erhalten“, stöhnte Personalchef Müllenbach in einem Interview.

Der Schlagabtausch zwischen den Tarifparteien ist intensiver geworden. Überrascht durch sehr wirksame Streiks, haben prominente Arbeitgeber versucht, Aktionen oder Streikende selbst zu kriminalisieren.

In Bayern, Brandenburg und Niedersachsen sorgten mehrtägige Lagerstreiks bei Edeka für erhebliche Nachschubschwierigkeiten, was das Unternehmen mit der Androhung von Schadensersatzklagen und Abmahnungen beantwortete. Bei Ikea in Augsburg und in Eching sowie bei H&M in Nürnberg stießen sich die Geschäftsleitungen an Flashmobs und schalteten zum Teil die Polizei ein.

Noch härtere Bandagen legte Karstadt an und erwirkte mit Verweis auf den bis 2021 geltenden „Zukunftstarifvertrag“ ein bundesweites Streikverbot: Das Arbeitsgericht Berlin erließ eine einstweilige Verfügung, gegen die die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft jedoch juristisch vorgeht – Ausgang offen.

Starkes Gewicht haben die ver.di-Tarifkommissionen 2019 auch auf die Forderung gelegt, wieder gemeinsam die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge zu beantragen. „Auf gar keinen Fall“, so die stereotype Antwort der Arbeitgeberverbände, die eine sich zuspitzende Tarifflucht und starkes Lohndumping zu verantworten haben. Die bitterste Konsequenz: 70 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten sind von Altersarmut bedroht, schätzt ver.di. „Hier muss dringend gegengesteuert werden“, so Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. „Wir bleiben dran, auch die Tarifabschlüsse sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.“


Kathrin Andreev, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei Saturn in Köln und Mitglied der Tarifkommission:

„Unser Betriebsrat wurde 2015 gegründet. Inzwischen ist die Hälfte der etwa 100 Beschäftigten ver.di-Mitglied. Zu unserem ersten Arbeitskampf kamen 27 Beschäftigte. Der Chef hat Druck erzeugt, was ziemlich durchsichtig war. Als wir die Arbeit niederlegten und vor der Tür standen, ist er durchs Haus gegangen und hat die anderen per Handdruck begrüßt. Außerdem gab es Pizza für sie. Sogar bis in den Keller ist er gegangen. Da lässt er sich sonst nie blicken. Das war natürlich durchschaubar. Bei vielen hat es bei der ersten Streikveranstaltung Klick gemacht. Plötzlich verstanden sie, gute Tarifabschlüsse werden einem nicht geschenkt. Der Chef hat dann auf die Prämien hingewiesen, die es beim Verkauf von Garantieverlängerungen gibt. Doch die sind nicht tabellenwirksam und nicht sicher. Einen Tarifabschluss haben wir fest. Schließlich meinte er, die Verhandlungen gingen uns nichts an. Aber das stimmt nicht. Selbstverständlich hat Saturn die Möglichkeit, am Verhandlungstisch zu sitzen. Es sind nicht nur Unternehmen aus dem Food-Bereich da. Als wir dann die Einigung hatten, sagte ich meinen Kolleginnen und Kollegen: Ihr könnt stolz sein. Wir waren nur drei Saturnmärkte, die gestreikt haben, und ihr seid Pioniere. Ich bin sicher, in 2021 werden noch mehr Märkte dabei sein.“


Wolfgang Stark, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei der Edeka Handelsgesellschaft Nordbayern-Sachsen-Thüringen mbH und Betriebsratsvorsitzender des Logistikstandortes im oberfränkischen Marktredwitz:

„Ich bin seit über 30 Jahren bei den Arbeitskämpfen dabei. Anfangs war Edeka im genossenschaftlichen Großhandel vertreten, nun im allgemeinen Groß- und Außenhandel. In dieser Runde haben alle fünf Logistik-Lagerstandorte in Sachsen, Unter-, Mittel- und Oberfranken Zusammenhalt bewiesen und für mehr Entgelt ihre Arbeit für mehrere Tage niedergelegt. Teilweise waren es über 400 Beschäftigte der Logistiklager an einem Tag. Wir hätten zuletzt eine ganze Woche gestreikt, wenn der Arbeitgeber nicht am dritten Tag eingelenkt hätte. Wir haben ihm klargemacht, dass wir keinen Deut von unseren Forderungen heruntergehen werden, im Gegenteil, wir wollten noch etwas obendrauf, und das haben wir letztendlich auch bekommen. Denn unsere Entgeltsteigerungen haben wir ohne Nullmonate erkämpft und vor der Fläche Bayern abgeschlossen. Mit unserem Vorschalttarifvertrag waren wir Vorbereiter für weitere gute landesweite Abschlüsse.

So etwas geht jedoch nur mit engagierten Kolleginnen und Kollegen. Schon lange vor den Streiks haben wir Mitglieder gewinnen können. Unser Werbeargument: Wir brauchen ver.di, um unsere Forderungen beim Arbeitgeber durchsetzen zu können. Den Rechtsschutz und etliche Vergünstigungen über ver.di gibt es noch obendrauf.“ lüh