Heike Schneider (Name geändert) sortiert ihre Post schon vor Beginn der täglichen Arbeitszeiterfassung – zum Ärger des örtlichen Betriebsrates. Aina Gruber-Baumbach, Betriebsratsvorsitzende der Niederlassung Braunschweig-Magdeburg mit rund 4.300 Beschäftigten und Mitglied des Gesamtbetriebsrats der Deutschen Post AG, kennt viele solcher Fälle. "In der Arbeitswissenschaft nennt man das indirekte Steuerung. Für viele Postmitarbeiter*innen heißt das in der Praxis, dass sie ein immer größeres Pensum in derselben Zeit bewältigen sollen. Wie sie das schaffen, bleibt ihnen selbst überlassen."

Überall mehr Druck

Eine im September veröffentlichte ver.di-Publikation "Arbeitsintensität – Perspektiven, Einschätzungen, Positionen aus gewerkschaftlicher Sicht" bereitet das Thema auf und beleuchtet nicht allein die schwierige Situation vieler Postbeschäftigter, sondern auch die Arbeits- bedingungen im Handel, im öffentlichen Dienst, im Gesundheitswesen sowie in der Informationstechnologie und Telekommunikation. Verbindendes Element dieser so unterschiedlichen Berufsfelder: Die Arbeitsintensität steigt überall, Beschäftigte erhalten mehr Verantwortung für ihre Aufgabenbereiche. "Arbeitshetze und Zeitdruck prägen quer durch die Branchen den Arbeitsalltag. Die anhaltend hohe Arbeitsintensität wirkt dabei negativ auf die Qualität der Arbeitsbedingungen und damit die psychische wie physische Gesundheit sowie das Leben der Beschäftigten", so Astrid Schmidt aus dem ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit.

Um ausuferndem Arbeitsstress wirksam gegenzusteuern, können Gefährdungsbeurteilungen helfen, die sowohl die physischen wie die psychischen Belastungen der Arbeit erfassen. Bei der Deutschen Post AG ist es nach jahrelangen Auseinandersetzungen vieler Betriebsräte mit dem Arbeitgeber immerhin gelungen, ein einheitliches Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung durchzusetzen. "In meinem Verantwortungsbereich gilt diese Methode bisher nur im Raum Braunschweig und noch nicht in Magdeburg", sagt Aina Gruber-Baumbach. Derzeit liefen die Beschäftigtenbefragungen nach dem einheitlichen Fragebogen "PsyGesund", erste Auswertungen gebe es bereits. Offen sei allerdings, wie der Arbeitgeber anschließend dazu gebracht werden könne, konkrete Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vor zu viel Arbeit einzuleiten.

Immerhin existieren bei der Post AG Betriebs- und Gesamtbetriebsvereinbarungen im Bereich des Arbeitsschutzes, etwa zur Arbeitszeitaufzeichnung und zu Vertretungsregelungen. "Wenn dann aber Beschäftigte selbst vor Beginn der Arbeitszeiterfassung bereits Briefe einsortieren, ist auch der Betriebsrat am Ende mit seinem Latein", sagt Aina Gruber-Baumbach. Sie bedauert, dass immer weniger Postbeschäftigte bereit seien, sich gewerkschaftlich zu engagieren.

Zugleich sieht sie, wie groß der Personalmangel auch durch hohe Fluktuation ist. "Die verbleibenden Beschäftigten ersaufen förmlich in Arbeit." Die Zustellbezirke werden immer größer. Die zu befördernden Mengen an Briefen, Katalogen und Paketen bis zu 31,5 Kilogramm sind hoch. Trotz dieser unattraktiven Arbeitsbedingungen stellt die Deutsche Post AG immer noch viele Einsteiger*innen nur befristet ein; 14 bis 18 Prozent betrage die Quote, weiß die Betriebsratsvorsitzende aus Braunschweig-Magdeburg. Die Arbeitnehmervertretungen und ver.di wollen den Anteil der Befristungen auf 8 Prozent herunterbringen.

Aktuelle ver.di-Broschüre

In anderen Unternehmen und Branchen läuft es nicht besser. Die Arbeitsbelastung nimmt seit Jahren zu, es wird an Personal gespart, Fehlplanungen häufen sich. In Folge leiden laut Repräsentativerhebung des DGB-Index 2018 im Gesundheitswesen 68 Prozent der Beschäftigten sehr häufig oder oft unter Arbeitshetze und Zeitdruck, in öffentlichen Verwaltungen 48 Prozent, in der Post- und Logistikbranche insgesamt 56 Prozent, im Handel 45 Prozent und in der Informations- und Kommunikationstechnologie 61 Prozent. Hinzu kommen häufige Störungen und Unterbrechungen bei der Arbeit, die den Druck erhöhen. Das betrifft im Gesundheitswesen 59 Prozent der Beschäftigten, in öffentlichen Verwaltungen 61 Prozent, in der Post- und Logistikbranche 44 Prozent, im Handel 48 Prozent und in der Informations- und Kommunikationstechnologie 76 Prozent.

Die Beschäftigten klagen nicht nur über Personalmangel, sondern auch über Unterbrechungen, die ihnen die Zeit rauben, beispielsweise durch Zusatzaufgaben, technische Probleme, mangelnde Planung oder Notfälle. Und dort, wo die Arbeitsbedingungen ohnehin schlecht sind, werden sie fast doppelt so oft gestört wie bei insgesamt guten Arbeitsbedingungen. Das geht aus dem ver.di-Report "Gestörtes Arbeiten, schlechteres Arbeiten" hervor. Die Belastungsspirale im Dienstleistungssektor sei ein wesentlicher Grund für die steigende Zahl von Stresskranken, sagt dazu der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. Wo es zu einer hohen Arbeitsintensivierung gekommen sei, fühlten sich inzwischen 69 Prozent der Befragten auch sehr häufig im Arbeitsablauf gestört.

Besonders im Gesundheitswesen intensiviert sich trotz aller Ankündigungen besserer Personalschlüssel die Arbeit weiter. Gerade Pflegebeschäftigte gehören zu den Arbeitnehmer*innen, die sich oft besonders stark ausbeuten lassen, so ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler in der Broschüre zum Thema Arbeitsintensität: "Viele Arbeitgeber nutzen die Empathie und das Engagement ihrer Beschäftigten gnadenlos aus. Der ganze Betrieb funktioniert nur noch irgendwie, weil Beschäftigte über ihre Grenzen gehen und die eigenen Rechte ignorieren."

Dass es auch anders gehe, zeige der Betriebsrat am Helios-Klinikum Salzgitter, der gerichtlich seine Mitbestimmungsrechte verteidigte und dafür sorgte, dass der Konzern wegen schlechter Personalplanung zur Zahlung von Ordnungsgeldern verurteilt wurde. Dafür erhielt der Betriebsrat 2018 den Deutschen Betriebsrätepreis in Gold. Hartnäckiges Engagement zahlt sich eben doch aus.

Die ver.di-Broschüre "Gestörtes Arbeiten, schlechteres Arbeiten" gibt's unter:

www.innovation-gute-arbeit.verdi.de