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Illustration: Sarah Kunst

Ich wohne seit 90 Tagen in einer Wohngemeinschaft, in welcher zwei Generationen leben. Er mit 91 Jahren, sie mit 79 Jahren und wir, er 27 Jahre und ich 27 Jahre – insgesamt 224 Lebensjahre, und eine Waschmaschine. In diesen Zeiten, in denen die Worte fehlen, ist unser Zusammenleben messbar geworden. Wir zählen heute den 39. Tag der Isolation und den 6. Einkaufszettel, zwei von vier Mitbewohnern gehören zur Risikogruppe, unsere Wohnungen verbinden 12 Treppenstufen, uns trennt ein Altersunterschied von 65 Jahren und Covid-19.

Die Kalendereinträge meiner Mitbewohnerin in unserem gemeinsamen Küchenkalender gleichen in anderen Zeiten dem Terminkalender einer Geschäftsführerin. Die Zeilen der letzten 39 Tage, die wir in Isolation verbracht haben, sind durchgestrichen worden, bemerke ich. Es fehlen die Termine der Gymnastikgruppe, die Besuche der Verwandtschaft und die Treffen mit Freunden. Auch die Spalte, in welcher meine Mitbewohnerin die Geburtstage, Jubiläen und Todestage der Mitmenschen einträgt, verweist auf die fehlende Nähe.

Ich fahre die Spalte entlang, stoße auf den Geburtstag meiner verstorbenen Oma, den Geburtstag der Mutter meiner Mitbewohnerin und den Termin der Einweihungsfeier der Hausgemeinschaft. Während ich das Bedürfnis habe, den Mundschutz über die Augen zu ziehen, legt meine Mitbewohnerin ihre Einkaufsliste auf den Küchentisch. Heute ist Montag, der Wochentag, an welchem wir für die Hausgemeinschaft einkaufen. Wir sind zwei von vier Menschen, die in diesem Haus leben. Wir schützen die Risikogruppe. Zur Risikogruppe der Gemeinschaft gehören meine Mitbewohnerin mit ihren 79 Jahren und mein Mitbewohner mit seinen 91 Jahren, die Mitmenschen, die in Zeiten lebhafter Kalenderblätter an der Gesellschaft teilgenommen haben.

Wir leben noch

Der Einkaufszettel ist lang geworden, obwohl unsere Mitbewohner überlegen, ob uns ein Ladenbesuch erspart werden kann, indem sie Wünsche verheimlichen. Im Laden entscheide ich, dass mein Mitbewohner keinen Tag auf seine Lieblingsgerichte verzichten wird. Dann stehe ich vor dem Regal, um zu bemerken, dass nicht nur die aufgelisteten Nudeln ausverkauft sind.

Zuhause sehe ich, dass der heutige Montag im Kalender durchgestrichen wurde. "Wie geht es dir?", frage ich an diesem Montagabend. "Wir leben noch", antwortet unser Mitbewohner. Eine Antwort, die ich täglich erhalte, wenn ich nach dem Wohlbefinden eines Mannes frage, der in seinem Leben viele Antworten auf diese Frage geben konnte. Ein Mann, der sich auf das normale Zusammenleben freut, der die Nähe zu Freunden und zur Familie liebt und das Leben hoffentlich bis zum letzten Kalenderblatt genießen wird.

Während die Öffentlichkeit über Risikogruppen und ihren Schutz debattiert, sprechen wir in der Hausgemeinschaft von Kalendereinträgen, die gestrichen werden, und in ruhigen Momenten von Zeiten, in denen eine Spalte im Kalender fehlen wird. Ein Teil meiner Generation, die an eine Vielzahl an kommenden Jahren glaubt, hat wegen der Lücken im Terminkalender aufgeatmet. Meine Mitbewohner wissen, dass ihre Termine gezählt sind. Die durchgestrichenen Zeilen im Kalender unterstreichen in dieser Hausgemeinschaft die Bedeutung von 39 Tagen.

Zwischen meiner Mitbewohnerin und ihrer Mutter, die im Pflegeheim lebt, liegen die Demenz der Mutter, ein Besuchsverbot und Kalenderblätter, die täglich abgerissen werden. Sie verbindet der Wunsch nach Nähe, die Zugehörigkeit zur selben Risikogruppe und die Zeiten, die sie nicht zurückbekommen. Sie könnte ihre Mutter aus der Ferne besuchen. Die Distanz der Demenz, addiert mit dem Sicherheitsabstand und dem Mundschutz, ergibt eine Entfernung, die kaum überwunden werden kann.

Kann man meiner Mitbewohnerin verbieten, dass sie die letzten Kalendertage mit ihrer Mutter verbringt? Kann man meinem Mitbewohner die Besuche seiner Familie vorenthalten? Ist es richtig, dass Mitmenschen, die ihre Kalendertage noch genießen möchten, weiterhin mit Einschränkungen leben sollen?

Die gestrichenen Kalendertage haben die Bedeutung der Lebenszeit unterstrichen. Die Tatsache, dass ein Besuch im Pflegeheim das Leben der dortigen Bewohner und meiner Mitbewohner gefährden könnte, markiert das Dilemma. Im Alltag der Hausgemeinschaft bedeutet dies, dass meine Mitbewohnerin bei einer Aufhebung des Kontaktverbots zwischen der Distanz zu ihrer Mutter und der Sicherheit ihres und des Lebens des Partners wählen müsste. Ihre Freiheit der Selbstbestimmung könnte die Bewohner des Pflegeheims gefährden. Hinter anderen Haustüren und Masken können Menschen von anderen Lebenswirklichkeiten erzählen.

Hätten wir das Dilemma nicht erkannt, dann hätte ich eine Streitschrift für die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen und die Selbstbestimmung der Risikogruppe der Hausgemeinschaft verfasst. Wir hätten den 10. Mai, den Tag, an welchem die Beschränkungen erneut verhandelt werden sollen, im Kalender markiert. Und hinter den Masken würden wir für die Selbstbestimmung der Risikopatienten protestieren.

In der Distanz zusammengewachsen

Letztendlich haben wir Masken genäht, auf Empfehlungen gewartet und bemerkt, dass der 10. Mai kaum Auswirkungen auf unseren Alltag haben wird. Die älteren Mitbewohner werden weiterhin zur Risikogruppe gehören, weshalb sie die Kontaktsperre und die Distanz einhalten, um ihr Leben und das Leben ihrer Mitmenschen zu schützen. Ich zähle zu den Menschen, deren Beschränkungen laut Prognosen gelockert werden sollen. Um meine Mitbewohner zu schützen, werde ich die Kontaktsperre weiterhin einhalten.

Unser Handeln basiert auf der Hoffnung, dass die gestrichenen Kalendereinträge zu einer Zeit, in der wir Menschen, die wir lieben, umarmen können, nachgeholt werden. Und wir haben Glück, dass wir die leeren Kalenderseiten trotz Distanz gestalten können. Wir wohnen seit 90 Tagen in unserer Hausgemeinschaft. Aber wir leben seit 39 Tagen zusammen. Die Bedenken vor dem Einzug – die 12 Treppenstufen und der Altersunterschied von 65 Jahren – wurden in einer Zeit der leeren Kalenderseiten überwunden. Wir sind in einer Zeit der Distanz zusammengewachsen. Und wir haben das Privileg, dass wir diese Zeit miteinander verbringen können.

"Wir leben aktuell in einer Schneekugel", erklärt mein Mitbewohner, der schon in Gefangenschaft gelebt hat. Während ich den Terminkalender von der Wand nehme, denke ich an die Vielzahl von Schneekugeln, in welchen Mitmenschen allein leben, und hoffe, dass wir unsere Schneekugeln vor dem Winter verlassen können. Den 10. Mai, der 50. Tag, den wir im Frühling in unserer Schneekugel leben, werden wir auf Abstand am Lagerfeuer verbringen. Der Termin steht seit diesem Montagabend im Kalender der Hausgemeinschaft.

Unter dem Instagram-Namen kunstsarah begleitet die Autorin das Leben in ihrer Hausgemeinschaft mit ihren Grafiken, Filmen und Texten.

Spezial-Editorial

Im Gleichgewicht der Erde

Die Furcht war schon länger da, dass die weltweiten Finanzmärkte wie zuletzt 2008 zusammenbrechen und eine Lawine auslösen könnten. Und die Weltwirtschaft mit sich reißen würden. Dass ein unsichtbarer Virus den Finanzmärkten zuvorkommen würde – es war nicht auszuschließen. Aber dass er die Welt, wie wir sie zuletzt gekannt haben, in eine neue Wirklichkeit katapultieren würde, das war nicht abzusehen. Der Coronavirus hat uns verletzlich gemacht, hat schon viele Menschen das Leben gekostet. Das Gleichgewicht der Erde, es wird nach der Krise wohl ein anderes sein. Die Hoffnung auf eine grüne Erde, mehr Solidarität, mehr Miteinander – die aber wächst jetzt.

Petra Welzel