Wer nicht sehen kann, muss fühlen

Gegenwärtig absolvieren 273 blinde und hochgradig sehbehinderte junge Leute eine Ausbildung in Marburg. Die Blindenstudienanstalt bietet nicht nur Hilfsmittel, sondern auch Tipps für den Alltag

Von Franz-Josef Hanke*

Auch Sport gehört in Marburg zum Alltag

Seit eineinhalb Jahren sucht Markus Busche eine Stelle. Der Mediendokumentar ist hochqualifiziert, im Anschluss an ein Germanistik- und Politologiestudium hat er noch eine Weiterbildung in Potsdam absolviert. Doch eine Stelle hat Markus Busche bisher nicht gefunden: Er ist blind. Unter Menschen, die nicht sehen können, liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland zehnmal so hoch wie beim Rest der Bevölkerung. Eine Chance auf einen Job haben allenfalls Hochqualifizierte.

Studienanstalt seit 1916

Nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum sind die Bildungsbedingungen für Blinde besser als in Marburg. Seit 1916 hat die Deutsche Blindenstudienanstalt (BliStA) hier ihren Sitz. Sie betreibt nicht nur ein Gymnasium mit Internat, sondern auch Fachoberschulen für Fremdsprachensekretariat, für Sozialwesen und für Wirtschaftsinformatik. Auch eine überbetriebliche Ausbildung von IT-Kaufleuten ist im Angebot. Zur Zeit absolvieren 273 blinde und hochgradig sehbehinderte junge Leute eine Ausbildung an der BliStA. Aufgenommen wird hier nur, wer höchstens über ein Rest-Sehvermögen von 30 Prozent verfügt.

Andreas Büttgenbach lebt seit sieben Jahren in Marburg. 2001 kam er in die mittelhessische Universitätsstadt, machte dort zunächst seine Mittlere Reife und anschließend Abitur an einer speziellen Fachoberschule (FOS) für Sozialwesen. Zwei Jahre hat die Ausbildung dort gedauert - dann wollte er in die Praxis. Doch seine ursprüngliche Idee, in einer Einrichtung mit schwierigen Jugendlichen zu arbeiten, war aussichtslos. Zwar habe er während des Praktikums in einem "Sozialen Brennpunkt" keine Probleme mit den Jugendlichen gehabt. Doch allein konnte er sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht "beaufsichtigen". Nüchtern stellt Andreas Büttgenbach deshalb fest: "Es ist eine Tatsache, dass ein Arbeitgeber ungern jemanden einstellt, der nur im Team arbeiten kann und nicht allein."

Chancen als IT-Kaufmann

So sattelte er um. Inzwischen ist der 24-Jährige schon im dritten Azubijahr auf dem Weg zum IT-Kaufmann. "Es war die richtige Entscheidung, denke ich." Büttgenhagen erlernt Programmiersprachen, Netzwerk-Administration und alles wichtige über Ver- und Einkauf. Inzwischen bewertet er seine Berufsaussichten trotz der Behinderung als gut.

Neben den entsprechenden Hilfsmitteln für Blinde schätzen er und seine Kollegen an der BliStA die Möglichkeit, ohne größeren Aufwand Menschen kennen zu lernen, die in der gleichen Situation sind. Der Austausch über Erfahrungen und Arbeitstechniken ist auch psychisch wichtig. Außerdem werden bei der BliSTA alle Unterrichtsmaterialien für die blinden Schüler speziell aufbereitet. Grafische Darstellungen sind als Relief tastbar. Schulbücher und Arbeitstexte erhalten die blinden Schülerinnen und Schüler in Brailleschrift, die der französische Blindenlehrer Louis Braille aus einer militärischen Nachtschrift abgeleitet hat. Dabei werden Punkte in Pappe gestochen, die man dann mit den Fingerkuppen ertasten kann.

Auch Computer für Blinde geben den Bildschirminhalt auf diese Weise wider. Meist sind sie mit einer sogenannten "Braillezeile" ausgestattet, in der elektromagnetisch gesteuerte Metallstifte die Schrift darstellen. Hinzu kommt in der Regel eine synthetische Stimme, die den Bildschirminhalt zeilenweise vorliest.

Neben schulischem Wissen und Fachkenntnissen sind für den Berufserfolg auch so genannte "Soft Skills" unerlässlich. Hier treffen Blinde beispielsweise auf Probleme, weil sie anderen Menschen nicht direkt ins Gesicht schauen können. Neben dem klassischen Unterrichtsstoff vermittelt die BliStA deswegen auch "lebenspraktische Fertigkeiten" (LPF), wozu auch Nähen und Kochen gehören. Großen Stellenwert hat zudem das Mobilitätstraining mit dem weißen Langstock. Danach sind Blinde in der Regel fähig, sich zumindest in gewohnter Umgebung ohne fremde Hilfe fortzubewegen - ebenfalls wichtig fürs Selbstvertrauen.

Davon hat Manuel Beck wahrscheinlich genug. Jedenfalls überlegt der Abiturient, ob er parallel zum Studium der Wirtschaftswissenschaften auch noch eine Ausbildung in einem kaufmännischen Beruf absolvieren soll. Seit dem Jahr 2000 ist er nun an der BliStA, weil er dort die Hochschulreife erlangen konnte. Seine ersten beiden Schuljahre hat er in Süddeutschland an einer Regelschule verbracht. "Aber der Besuch einer Blindenschule ist einfach nicht so anstrengend", gibt er zu Protokoll. Und in Marburg hat er vieles erfahren und erlebt, was er anderswo nie hätte lernen können.

* Der Autor ist blind