Deutschland ist ein Paradies für Discounter. Die Zeche bezahlen die Menschen, die die Waren herstellen und verkaufen

Von Annette Jensen

Sabine Kirchner studiert gerne Aldi-Prospekte. Vorletzte Woche entdeckte sie dort einen unschlagbar günstigen Wagenheber, vor ein paar Tagen hat ihre Tochter einen neuen Föhn bekommen. Als die Kinder kleiner waren, hat Sabine K. auch regelmäßig Skianzüge, T-Shirts und Jogginghosen bei Aldi gekauft. "Wenn alles so billig ist, kann man manchmal richtig süchtig werden", bekennt sie. Nicht selten, wenn sie sich nicht entscheiden konnte, ob ihr nun das grüne oder rote Hemd besser gefiel, hat sie einfach beide genommen.

Dabei muss die 49-Jährige gar nicht auf jeden Euro achten. Das Familienbudget reicht für das Leben im Reihenhäuschen, drei Auslandsurlaube pro Jahr und einen Mercedes vor der Tür. Doch der Aldibesuch gehört einfach dazu - und neben Joghurt und Schokolade landet jedes Mal auch ein Schnäppchen im Einkaufswagen.

In der Abwärtsspirale

Deutschland ist das Königreich der Discounter. 44 Prozent der Lebensmittel und ein erheblicher Teil anderer Konsumgüter werden heute bei Lidl, Aldi und Co. abgesetzt - und Experten erwarten, dass ihr Anteil in der Krise auf 50 Prozent steigen wird. Schon mit drei Preissenkungsrunden haben sie in diesem Jahr den Supermärkten zugesetzt - und die sehen sich gezwungen, ihre Butter nun ebenfalls zu Schleuderpreisen abzuwracken. Bei eh schon minimalen Gewinnmargen kann das nur auf Kosten der Menschen gehen, die in den Läden arbeiten oder die Waren herstellen. "In der Krise dreht sich der absurde Teufelskreis noch eine Runde schneller", beobachtet Ulrich Dalibor, bei ver.di für den Einzelhandel zuständig.

Begonnen hat die nach unten gerichtete Preisspirale vor 45 Jahren. Damals wurden die Aldi-Brüder von den etablierten Einzelhändlern noch belächelt: Der Kunde sei König, wolle wählen und beraten werden - und nicht in einem schäbigen Laden nur 250 verschiedene, schlecht präsentierte Artikel vorfinden. Doch Aldi wuchs und wuchs, und 1973 verbot der Staat verbindliche Preisbindungen durch die Hersteller für fast alle Waren. Auch Lidl und Penny drängten jetzt auf den Markt. Seit Beginn der 90er Jahre verkaufen die Discounter außer Lebensmitteln zunehmend billige Aktionsartikel - Warenhäuser und Fachhändler gerieten nun ebenfalls gehörig unter Druck.

Von den 2,5 Millionen Beschäftigten im Handel hat kaum die Hälfte noch eine Vollzeitstelle. Auf den ständig wachsenden Verkaufsflächen schuften immer weniger Menschen. Die Tätigkeiten werden kleinteilig zersplittert, um möglichst viele ungelernte Arbeitskräfte einsetzen zu können. Dabei ist auch der maximale Tariflohn einer ausgebildeten Verkäuferin mit 2060 Euro brutto doch eher bescheiden.

Unser Schnäppchen ist sein Hungerlohn: Produktion in China

Die verlängerten Ladenöffnungszeiten haben die Großunternehmen weiter gefördert und die Kleinen verdrängt. Das Versprechen, auf diese Weise enstünden mehr Jobs, hat sich nicht erfüllt. Massiv zugenommen haben hingegen Teilzeitarbeitsplätze im Umfang von 15 bis 20 Stunden. Von denen aber kann niemand leben. Viele Beschäftigte bitten deshalb darum, Überstunden machen zu dürfen. Die werden ihnen oft in großem Umfang zugestanden - vorausgesetzt sie zeigen sich stets flexibel und murren nicht, wenn Flaute an der Kasse herrscht und sie früher nach Hause gehen sollen. "Durch die Teilzeitverträge sparen die Arbeitgeber Urlaubsgeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall", fasst die Hamburger ver.di-Vizelandesleiterin Agnes Schreieder zusammen. Das widerspreche zwar den Tarifverträgen. Doch ohne Hilfe eines Betriebsrats hätten die Beschäftigten kaum eine Chance, ihre Rechte durchzusetzen.

Betriebsräte aber gibt es in Discounter-Filialen bisher nur vereinzelt. Mit der Drohung, ans andere Ende der Stadt versetzt zu werden, Diebstahlunterstellungen und Abmahnungen versuchen die Discounter, den Gedanken daran schon im Keim zu ersticken. Immerhin - an der Hamburger Reeperbahn hat die Lidl-Belegschaft es vor ein paar Wochen gewagt: "Wir möchten unsere Mitspracherechte vor allem beim Schichtplan durchsetzen", erklärt die frischgebackene Betriebsrätin Astrid Peters. Massive Behinderungen bei der Wahl habe es nicht gegeben: "Wir hatten wohl Glück und die wollten sich keinen weiteren Skandal in der Öffentlichkeit leisten".

Mit nur drei bis fünf Prozent des Umsatzes schlagen die Personalkosten bei den Discountern zu Buche, gut sortierte Supermärkte geben dafür noch etwa 12 Prozent aus und in City-Warenhäusern können es auch mal 20 Prozent sein. Doch weil der Preis für die Masse der Kunden das schlagende Argument ist, geraten serviceorientierte Verkaufsstellen immer stärker unter Druck.

Schnäppchen teuer erkauft

So billig wie irgend möglich ist auch das Motto beim Einkauf der Waren. Aufgrund der riesigen Mengen haben die Discounter eine äußerst starke Verhandlungsposition. Ein Großteil der Aktionswaren kommt aus Asien. Wie es in den Aldi-Zulieferfabriken in China zugeht, die Haushalts- und IT-Geräte, Kosmetika und Textilien herstellen, hat das "Südwind-Institut für Ökonomie und Ökomene" kürzlich recherchiert. Der gesetzliche Mindestlohn reicht nicht zum Überleben: Die Arbeiter/innen schuften bis zu 91 Stunden pro Woche, manche haben nicht einen einzigen Tag in der Woche frei. Das widerspricht zwar den chinesischen Gesetzen - doch unabhängige Betriebsräte gibt es dort nicht.

"Die Schnäppchenhits der Discounter werden mit systematischen Verletzungen von Arbeitsrechten bei den globalen Zulieferern erkauft", schlussfolgert Ingeborg Wick vom Südwind-Institut. Weil freiwillige Selbstverpflichtungen nichts nützen - auch Aldi hatte vor einiger Zeit eine solche Erklärung verabschiedet - fordert Wick nun verbindliche Regelungen: Mächtige Einkäufer müssen verantwortlich gemacht werden für die Einhaltung von sozial-ökologischen Standards in der Lieferkette. Ulrich Dalibor ist ebenfalls überzeugt, dass dem Dumpingwettbewerb nur per staatlicher Regulierung Einhalt geboten werden kann. Ohne Mindestpreise und die Begrenzung der Ladenöffnungszeiten ist der Teufelskreis nicht zu stoppen.

Für den Warenkorb:

Anna Sam: Die Leiden einer jungen Kassiererin. Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl, Riemann Verlag, 12,50 Euro

Ihre Erfahrungen als Supermarkt- Kassiererin veröffentlichte die Französin Anna Sam zunächst in einem Weblog. Als Buch veröffentlicht wurde der Titel in Frankreich sofort zum Bestseller.