Glaube, Triebe, Hoffnung: Was der Mensch und sein Balkon jetzt nötig haben

Die Stiefmütterchen-Orchidee bedarf etwas mehr Zuspruch

Theoretisch, meteorologisch und angeblich beginnt demnächst der Frühling. Praktisch, das zeigt die Lebenserfahrung, hegt der wintergebeutelte Mensch aber gerade jetzt berechtigte Zweifel, ob es in diesem Jahr etwas damit wird: Der Rasen liegt in stumpfem Braun danieder und sieht weiterhin aus wie ein Fußballplatz in St. Petersburg, die Knospen an den nackten Büschen und Bäumen bleiben hartnäckig verschlossen, Blumen wird man in der freien Natur wohl ohnehin nie wieder sehen.

Unter diesen Umständen hilft nur ein Gespräch mit dem Therapeuten, zum Beispiel mit Nils Andreas vom Samen- und Gartenfachbetrieb "Samen-Andreas" in der Frankfurter Töngesgasse. Das Unternehmen existiert bereits seit 1868 - genau genommen ist es sogar etwa 50 Jahre älter - und hat also eine lange Frühlingserfahrung. "Er kommt auch in diesem Jahr", versichert Nils Andreas. Der Pflanzenfachmann in der fünften Generation rät, sich die verbleibende Zeit mit Balkon und Terrasse zu beschäftigen: "Denken Sie mal an Stiefmütterchen."

Eine tapfere Blume

Stiefmütterchen - genau. Ein schönes Gewächs aus der Familie der Veilchen, gern in Blautönen unterwegs, aber auch blau und gelb mit einem fast schwarzen, so genannten Auge in der Blütenmitte. Zartblättrig, aber von enormer Widerstandskraft: Ein Stiefmütterchen erinnert nach manch kalter Nacht am Morgen noch an zu kühl gelagerten Feldsalat, doch erholt es sich immer wieder. "Weil es ein eigenes Frostschutzmittel besitzt", erläutert Nils Andreas, "es verhindert, dass Wasser in den Zellen der Pflanze gefriert." Weil Stiefmütterchen zunächst nicht wachsen, empfiehlt er, sie ruhig in einem geringen Abstand, etwa 15 Zentimeter voneinander entfernt auszupflanzen. Später gebe es dann vielleicht etwas Gedrängel, "aber so ein Kübel oder Kasten sollte schon füllig aussehen." Eine Horde Stiefmütterchen wäre wirklich nicht schlecht, das ist wahr. Eine tapfere Blume, die sich selbst hilft und - es gibt sie inzwischen auch in mutigem Orange - als leuchtendes Vorbild dienen kann. Woran könnte man noch denken? "Primeln", schlägt Nils Andreas vor, "und vorgezogene Narzissen und Tulpen!"

Der Therapeut hat ein erstes Ziel erreicht. Es gelingt, sich die Welt wieder in Farbe vorzustellen. Das sei aber erst der Anfang, meint Nils Andreas. Stiefmütterchen, Primeln, Narzissen und Tulpen könnten etwa ab Mitte April zum Einsatz kommen. Anfang Mai, wenn die Bedrohung durch Nachtfröste schwindet, dürfen ihnen Geranien, Petunien und kleine Winden Gesellschaft leisten, denn: "Der Sommer beginnt im Mai." Das gilt allerdings nicht für alle Pflanzen. Auf einem nach Norden ausgerichteten Balkon gedeiht nur, was wenig Sonne benötigt. "Es bringt ja nichts, wenn alles rückwärts wächst", sagt Nils Andreas und rät, erst einmal vorgetriebene Frühblütler in die Erde zu bringen. In schattigen und halbschattigen Lagen bewährten sich außerdem Fleißige Lieschen und Begonien. Überhaupt, Begonien: Gerade die Knollenbegonie sei ein idealer Begleiter durch die Jahreszeiten - stets fleißig am Blühen, in vielen Farbtönen, bis zu 60 Zentimeter hoch und noch dazu wieder verwendbar, wenn sie vor dem ersten Frost im Keller überwintern darf.

Vorgebliche Wunderwaffen

Mit viel Sonne kommen vor allem diverse Windenarten zurecht, darunter die von Nils Andreas bewunderte Blaue Mauritius. Auch Hänge-Verbenen und Hänge-Petunien der Sorte "million bells" seien hart im Nehmen, ebenso der jasminblütige Nachtschatten, ein eifriger, duftender Dauerblüher, und nicht zuletzt Kräuter wie Lavendel und Rosmarin. Neben Küchenkräutern lasse sich übrigens allerlei Essbares auch auf kleinstem Raum ziehen, so Nils Andreas, zum Beispiel Tomaten, Paprika oder Peperoni. Auch die Aufzucht eines Salats gelinge - und mache so manchem bewusst, "wie viel Arbeit im Gemüseanbau steckt."

So schnell kann man von der Winterdepression in eine Unterhaltung über den Sommer gelangen. Und wo wir schon dabei sind: Wie geht der Fachmann gegen die gemeine Blattlaus vor? "Ein bisschen Beten, ein bisschen Voodo", antwortet Nils Andreas wenig Hoffnung machend, aber er ergänzt: "Wirkungsvoll sind biologische Bekämpfungsmittel wie Pyrethrum, ein Margarithenextrakt, sowie Neem-Öl, das aus einem indischen Baum gewonnen wird." Auch Kali-Salze könnten helfen. Von selbst angerührten Hausmitteln hält er nichts, vor allem nicht von der vorgeblichen Wunderwaffe aus Geschirrspülmittel und Wasser "Da stellen sich mir die Haare auf!" Wer damit seine Pflanzen traktiere, "hat Glück, wenn die überleben." Auch Brennnesselsud gegen Blattläuse sei "Quatsch", und natürliche Feinde der gierigen Invasoren könne man zwar kaufen, auf einem Balkon jedoch erst gar nicht in Stellung bringen: "Die werden sofort weggeweht."

Ein guter Therapeut macht sich irgendwann überflüssig. Der Patient nimmt das Heft wieder selbst in die Hand. Oder, anders gesagt: Er pflanzt demnächst Knollenbegonien, bringt sie im späten Herbst in Sicherheit und vertraut fortan schon vor dem ersten Frost auf einen weiteren Frühling.