Brigitte Heinisch ist Altenpflegerin und hat ihren Arbeitgeber wegen Missständen in der Pflege angezeigt. Vor deutschen Gerichten hatte sie bislang keinen Erfolg. Nun hofft sie auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

"Ein Pflegeheim ist doch keine Fabrik, dort kann man nicht einfach das Band schneller stellen."

Ein lieblos überpinselter Plattenbau im Norden des Prenzlauer Berges. Die Wohnungen hier haben Nummern. An der Tür der 4.03 verwittert ein Aufkleber. "30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich." Nein, populär ist die Forderung nicht. Aber Brigitte Heinisch hat sich längst damit eingerichtet, Unpopuläres zu fordern.

Brigitte Heinisch, 47 Jahre alt, muss einmal eine zupackende, starke Person gewesen sein. Kräftige Statur, große Hände, ein offener Blick und klare Worte. Zwei Kinder allein in der DDR großgezogen, nie geheiratet, "denn die bürgerliche Ehe befördert die Ausbeutung der Frau". Im Drei-Schicht- Betrieb Diarahmen gestanzt, 1989 auf die Straße gegangen in der Hoffnung auf einen besseren Sozialismus, die Nachwende-Entlassung mit Putzen überwunden. Umgeschult auf Altenpflegerin, mit 30, kein Alter, in dem man übereilte Entscheidungen trifft. Und nun sitzt sie seltsam kraftlos an ihrem Esstisch, fährt mit der Hand über das geblümte Wachstuch, spricht langsam und zu leise für diesen Klangkörper. Ihre Bewegungen sehen aus, als hätte sie Muskelkater.

Brigitte Heinisch hat einen langen Weg hinter sich. Den Anfangspunkt markierte ihr Wunsch, "nur in Ruhe meine Arbeit machen zu können". Am vorläufigen Endpunkt steht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, bei dem sie Klage eingereicht hat. Irgendwo unterwegs muss Brigitte Heinisch ihre Kraft verloren haben.

Damit keine Zweifel aufkommen, Brigitte Heinisch hat sich den Beruf der Altenpflegerin ausgesucht. Auf einer ABM-Stelle arbeitet sie mit Alten und Behinderten. "Ich habe dort den individuellen Umgang mit Leuten gelernt", sagt sie. Brigitte Heinisch macht ihr Examen, Note 1,7, arbeitet in der ambulanten Pflege, dann in Pflegeheimen des Berliner Vivantes-Konzerns. "Ich hatte nicht den Anspruch, Kraft meiner Wassersuppe alles umzustoßen", sagt sie. Aber die Suppe brodelt.

In der tiefsten Traufe

Als Brigitte Heinisch Anfang 2002 in dem Vivantes-Pflegeheim in der Teichstraße anfängt, stellt sie fest, sie ist "in der tiefsten Traufe gelandet". Wie es dort aussieht? Windeln laufen über. Pflegehelfer geben Tabletten für 90 Patienten aus. Keiner weiß, ob die Bettlägerigen genug zu essen und zu trinken bekommen haben. Der Arzt wird Tage verspätet bestellt, um Schmerzpflaster zu wechseln. "Denk nur nicht darüber nach, sagte eine Kollegin zu mir." Brigitte Heinisch denkt nicht nur - sie schreibt Überlastungsanzeigen. Nach drei Jahren in der Teichstraße sind es elf. "Ein Pflegeheim ist doch keine Fabrik. Wenn dort das Band schneller gestellt wird, dann fallen vielleicht Glühbirnen herunter, aber hier..."

Brigitte Heinisch hat ein Buch geschrieben über ihren "Arbeitskampf", wie sie sagt. Satt und sauber? Eine Altenpflegerin kämpft gegen den Pflegenotstand, heißt es. Von "Kampf" und "Widerstand" spricht Brigitte Heinisch oft. Vielleicht, weil sie mit diesen Vokabeln groß geworden ist. In der Staatsbürgerkunde der DDR, wo sie eine "antifaschistische Erziehung genoss", wie sie betont. Und beim Vater, der als Gewerkschafter und Kommunist Flugblätter gegen die Nationalsozialisten verteilte und dafür zweieinhalb Jahre im Zuchthaus Brandenburg-Görden saß.

In der ver.di-Bundesverwaltung trifft sich am Abend der ver.di-Solidaritätskreis, der sich wegen Brigitte Heinischs Fall gegründet hat, rund 1000 Unterschriften gegen ihre Kündigung sind schon gesammelt. Eine Krankenschwester berichtet, wie es ist, gemobbt zu werden, weil man auf einer Mitarbeiterversammlung ein Schild mit der Aufschrift "Mehr Personal" hochhält. Brigitte Heinisch erzählt, dass sie nun für ver.di ehrenamtlich Pflegekräfte beraten will. Das bringt sie morgens aus dem Bett, Reden auf gewerkschaftlichen Kundgebungen und die zwei Stunden täglich in der Altenbetreuung beim Humanistischen Verband, damit sie nicht den Anschluss an ihren Beruf verliert.

Ende 2004 erstattet Brigitte Heinisch Anzeige wegen Betrug und Nötigung gegen Vivantes. Betrug, weil den Patienten und Angehörigen eine solide, menschenfreundliche Pflege vorgegaukelt wird. Und Nötigung, weil das Personal zum Schweigen über Missstände verdonnert wird. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren am 5. Januar 2005 ein, Brigitte Heinisch habe gegenüber ihrem Arbeitgeber eine Loyalitätspflicht und für allgemeine Missstände sei man nicht zuständig. Einen Tag später ist sie gekündigt.

Der Fall ist ein Politikum

Was folgt, sind ein zermürbender Schriftwechsel zwischen Anwalt und Unternehmen, öffentliche Proteste des ver.di-Solidaritätskreises, die zweite und dritte Kündigung, weil sie auf die Zustände in der Teichstraße per Flugblatt und Zeitung aufmerksam macht, der erfolglose Gang durch die Instanzen und zwei Auszeichnungen.

Brigitte Heinisch klopft auf ihre Akte. "Die freie unternehmerische Betätigung hat Vorrang vor den Interessen der Arbeitnehmer - das ist Klassenjustiz." Ein Politikum ist der Fall allemal. Weil das deutsche Recht Arbeitnehmer zur Treuepflicht gegenüber ihrem Arbeitgeber verpflichtet, getreu der Gewerbeordnung aus der Kaiserzeit. Und weil das Öffentlichmachen von Missständen seit der Aufdeckung des Fleischskandals durch einen Lkw-Fahrer als gesellschaftlich erwünscht gilt - eine entsprechende Gesetzesvorlage dümpelt allerdings vor sich hin.

Was so ein Parforceritt durch deutsche Gerichte kostet? Einen Zusammenbruch Anfang 2008, schwere Depressionen und sechs Wochen Kli- nikaufenthalt. 869 Euro monatlich - so viel Erwerbsminderungsrente erhält Brigitte Heinisch erst einmal für zwei Jahre. Nun hofft sie auf den Menschengerichtshof in Straßburg. "Um sich von so etwas zu erholen", sagt sie, "ist es wichtig, zu siegen."

Brigitte Heinisch

Geboren 1961 in Ost-Berlin, gelernte Lageristin. Nach der Wende Umschulung zur Altenpflegerin. Beginnt im September 2000 als Pflegerin bei Vivantes - Netzwerk für Gesundheit GmbH in Berlin. Erstattet Ende 2004 Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber wegen Missständen in der Pflege. Das Verfahren wird eingestellt, Heinisch gekündigt. Der Fall geht durch die Instanzen. Sie klagt mit Hilfe von ver.di vor dem Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg. 2006 Medienpreis "Brisant Brillant" für ihren Einsatz gegen Pflege-Missstände. 2007 Whistleblowerpreis der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) für Zivilcourage und Engagement.