Ausgabe 12/2010
Migration ist kein Sonntagsausflug
Sonja Marko ist in der ver.di-Bundesverwaltung zuständig für Migrant/innen
ver.di PUBLIK | Ab 1. Mai 2011 gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für die Länder, die am 1. Mai 2004 der EU beigetreten sind. Wird unser Arbeitsmarkt dann von Menschen aus den anderen Ländern überschwemmt?
Sonja Marko | Wie sich die Situation genau entwickeln wird, kann niemand seriös vorhersagen. Manche meinen: Die kommen wollten, sind schon längst da. Andere rechnen mit einem erheblichen Zuzug. Wie schwer eine Vorhersage ist, zeigt sich in den Ländern, die keine Begrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hatten - Großbritannien, Irland, die Schweiz und Schweden. In Großbritannien hatte die Regierung vorhergesagt, es werde einen Zuzug von 70000 bis 100000 Personen geben, gekommen sind weit über eine Million. In Schweden wiederum waren es nur wenige Tausend. Aktuell schätzt die Bundesagentur für Arbeit, dass 140000 wenig qualifizierte Arbeitskräfte pro Jahr nach Deutschland kommen werden.
ver.di PUBLIK | Warum werden sie sich auf den Weg machen?
Marko | Aus der Migrationsforschung kennen wir Push- und Pull-Faktoren, die einen also einerseits irgendwohin ziehen, andererseits von dort weg-drücken, wo man lebt. Diese Faktoren haben bei Wanderungen in der EU mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Mitgliedsstaaten und mit dem Wohlstandsgefälle zu tun. Das heißt aber nicht einfach: Wer in Deutschland mehr verdienen kann, kommt her. Auch die unterschiedliche Kaufkraft - also das, was man für sein Einkommen kaufen kann - sind nicht unbedingt Anlass dafür, aus einem Land wegzugehen. Wenn die Menschen zu Hause eine Zukunftsperspektive sehen, ist ein höheres Einkommen woanders allein kein Grund wegzugehen. Denn in ein anderes Land zu ziehen, ist ja kein Sonntagsausflug, sondern eine schwerwiegende Entscheidung mit enormen Auswirkungen auf Familie und soziales Umfeld. Es muss schon sehr gute Gründe dafür geben.
ver.di PUBLIK | Aber wenn mehr Arbeitskräfte nach Deutschland ziehen. Was bedeutet das dann für die Arbeitnehmer/innen hier?
Marko | Wer herzieht und eine Arbeitsstelle annimmt, tut das unter denselben Bedingungen wie deutsche Arbeitnehmer. Das funktioniert aber nur da, wo es einen geordneten Arbeitsmarkt gibt. Wo keine Tarifverträge gelten und Lohndrückerei herrscht, werden die Löhne ab Mai noch weiter unter Druck geraten.
"Sozialverträglich heißt: Gleichbehandlung schützt die, die kommen, vor Ausbeutung und die, die hier sind, vor Lohndumping"
ver.di PUBLIK | Wir haben ja Erfahrungen mit Arbeitsmigration. 1955 wurde in der Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen geschlossen. Was unterscheidet die Situation 2011 von der damaligen Anwerbung?
Marko | Die Gewerkschaften haben der Anwerbung von Gastarbeitern nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die neuen Kräfte unter tarifvertraglichen Bedingungen arbeiten. Das war, verbunden mit der betrieblichen Mitbestimmung, eigentlich das Erfolgsmodell für die Integration der ersten Gastarbeitergeneration. Sozial abgesicherte Arbeitsverhältnisse sind heute aber nicht mehr die Norm. In vielen Branchen überwiegen Armutslöhne und unsichere Beschäftigung. Ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland wäre ein wichtiger Baustein, um den europaweiten Arbeitsmarkt zu regulieren. Die Haltung der Bundesregierung in dieser Frage ist unverantwortlich. Ein anderer Unterschied: Heute gilt in der EU die Dienstleistungsfreiheit. Unternehmen aus anderen EU-Ländern können hier ihre Dienstleistungen anbieten und ihre Arbeitskräfte in Deutschland zu den Arbeits- und Einkommensbedingungen des Ausgangslandes arbeiten lassen. Die Situation ist also komplizierter als damals.
ver.di PUBLIK | Was müssen die Gewerkschaften tun, damit auch für die Neuankömmlinge die grundlegenden Menschenrechte bei der Arbeit gelten?
Marko | In der EU gilt die Grundrechte-Charta, die die wesentlichen Arbeitnehmerrechte schützt. Und zwar für alle. Darüber hinaus gelten andere internationale und deutsche Rechte, die zum Beispiel die Vereinigungsfreiheit garantieren. Aber Theorie und Praxis sind oft zweierlei. Bei uns werden nicht alle Arbeitnehmerrechte automatisch geachtet. Oft müssen sich die Arbeitnehmer/innen ihre Rechte erst erkämpfen. Um von den Erfahrungen anderer Gewerkschaften zu lernen, hatten wir Kollegen aus England, Irland, Schweden und der Schweiz zu Gast. Alle haben berichtet, dass es ohne ergänzende gesetzliche oder sonstige Vorschriften nicht gelungen wäre, die Arbeitnehmerfreizügigkeit sozialverträglich zu steuern. Sozialverträglich heißt: Gleichbehandlung schützt die, die kommen, vor Ausbeutung und die, die hier sind, vor Lohndumping.
Eine weitere Erfahrung der Kollegen zeigt: Es ist sehr wichtig, diejenigen, die neu ins Land und in die Betriebe kommen, aktiv anzusprechen und zu informieren, möglichst in ihrer Muttersprache. Wir bereiten in ver.di Materialien vor, um Bezirken und Betrieben für die "Neuen" Informationen über Rechte und Gewerkschaften in unterschiedlichen Sprachen zur Verfügung zu stellen.
ver.di PUBLIK | Ab Mai 2011 gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus Mittel- und Osteuropa. Bringen sie gewerkschaftliches Bewusstsein mit?
Marko | In den meisten dieser Länder sind die Gewerkschaften eher schwach, der Organisationsgrad ist gering. Aber auch wenn sie Gewerkschaftsmitglieder sind, sollten wir auf sie zugehen und sie informieren. Wenn Grenzen in der EU mit ihren 400 Millionen Bürger/innen für die Arbeitskräfte keine Rolle mehr spielen, muss die gewerkschaftliche Arbeit neue Wege gehen. Wichtig ist etwa die Anerkennung einer Gewerkschaftsmitgliedschaft über Grenzen hinweg. Die Menschen haben dann Zugang zu Beratung, Bildungsmaßnahmen, Rechtsschutz bei Konflikten im Unternehmen.
Interview: Bernd Mansel
Grundsätzlich gilt die Freizügigkeit in der EU
Am 1. Mai 2004 traten zehn Staaten der EU bei: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Die Staatsangehörigen der Beitrittsstaaten genießen wie alle EU-Bürger/innen, grundsätzlich Freizügigkeit.
Die „alten“ Mitgliedsstaaten konnten jedoch eine mit den mittel- und osteuropäischen Staaten vereinbarte Übergangsregelung nutzen, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit für einen gewissen Zeitraum einschränkt. Dafür galt die Formel 2+3+2. Das bedeutet: Die alten EU-Staaten trafen innerhalb von zwei Jahren Maßnahmen, um den Zugang zum Arbeitsmarkt als abhängig Beschäftigte für Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern zu regeln. Dieser Zeitraum konnte um drei Jahre und dann bei einer schweren Störung des Arbeitsmarktes noch einmal um zwei Jahre verlängert werden. Deutschland hat den Zeitraum von insgesamt sieben Jahren voll ausgenutzt, ab 1. Mai 2011 gilt hier die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
"Sozialverträglich heißt: Gleichbehandlung schützt die, die kommen, vor Ausbeutung und die, die hier sind, vor Lohndumping"
Grundsätzlich gilt die Freizügigkeit in der EU
Am 1. Mai 2004 traten zehn Staaten der EU bei: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Die Staatsangehörigen der Beitrittsstaaten genießen wie alle EU-Bürger/innen, grundsätzlich Freizügigkeit.
Die „alten“ Mitgliedsstaaten konnten jedoch eine mit den mittel- und osteuropäischen Staaten vereinbarte Übergangsregelung nutzen, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit für einen gewissen Zeitraum einschränkt. Dafür galt die Formel 2+3+2. Das bedeutet: Die alten EU-Staaten trafen innerhalb von zwei Jahren Maßnahmen, um den Zugang zum Arbeitsmarkt als abhängig Beschäftigte für Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern zu regeln. Dieser Zeitraum konnte um drei Jahre und dann bei einer schweren Störung des Arbeitsmarktes noch einmal um zwei Jahre verlängert werden. Deutschland hat den Zeitraum von insgesamt sieben Jahren voll ausgenutzt, ab 1. Mai 2011 gilt hier die Arbeitnehmerfreizügigkeit.