Gustav A. Horn leitet das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung

ver.di PUBLIK | Ab dem 1. Mai gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch in Deutschland. Werden dann Billigarbeiter aus Osteuropa Deutschland überschwemmen?

GUSTAV A. HORN | Überschwemmung ist der völlig falsche Begriff. Es werden sicherlich Arbeiter aus den osteuropäischen Ländern zu uns kommen, aber es wird eher ein Rinnsal in unsere Richtung. Bezogen auf das Lohnniveau wird sich das kaum messbar widerspiegeln. Es werden einfach zu wenig sein. Außerdem ist gerade im Dienstleistungsbereich, wo auch ungelernte Menschen hingehen, das Lohnniveau in Deutschland im europäischen Vergleich besonders niedrig. Wenn diese Leute ihr Land schon verlassen, dann eher in Richtung anderer Länder.

ver.di PUBLIK | Woran liegt es, dass sich das Lohnniveau in Deutschland im europäischen Vergleich so schlecht entwickelt?

HORN | In Deutschland betrifft das vor allem den Dienstleistungsbereich. In diesem Bereich wirkte der Druck der Arbeitsmarktpolitik auf das Lohnniveau besonders stark. Außerdem sind hier gerade in Ostdeutschland relativ weite Zonen tariffrei, da gelten die gewerkschaftlichen Tarifverträge nicht. Hinzu kommt, dass es in Deutschland keinen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gibt.

ver.di PUBLIK | Was entgegnen Sie, wenn jemand sagt, das Lohnniveau sei hierzulande immer noch zu hoch?

HORN | Beim IMK machen wir ausführliche Vergleiche der Arbeitskosten innerhalb der Europäischen Union. Daher kann ich sagen, dass solche Aussagen durch nichts gerechtfertigt sind. Seit Jahren steigen in keinem anderen Land der EU die Löhne und die Arbeitskosten geringer als in Deutschland. Setzt man das Ganze in Bezug zur Produktivität, sieht man, dass Deutschland das Land ist, das seine internationale Wettbewerbsfähigkeit am meisten gesteigert hat in den letzten Jahren. Diese Lohnzurückhaltung hat ihren Preis darin, dass die Menschen sehr wenig verdienen und damit sehr wenig ausgeben können. Unsere sehr schwache Binnenkonjunktur ist schlicht und ergreifend darauf zurückzuführen, dass in vielen Portemonnaies wenig Geld ist.

ver.di PUBLIK | In Ihrem Buch schreiben Sie, dass in Deutschland die Verteilungsgerechtigkeit verbessert werden müsse. Warum?

HORN | Das ist nicht nur eine moralische Frage. Das ist auch eine Frage der ökonomischen Stabilität. Nur mit einer relativ ausgewogenen Verteilung haben die Menschen in Deutschland genügend Geld, um die Binnennachfrage zu stimulieren. Außerdem kommen dann jene Einkommensgruppen, die über hohe Vermögen verfügen, nicht so in Versuchung, diese in riskante Geldanlagen zu stecken. Das hat unter anderem dazu beigetragen, dass wir die Finanzkrise hatten.

ver.di PUBLIK | Wie kann die Verteilungsgerechtigkeit verbessert werden?

HORN | Zum einen wäre es gut, wenn die Löhne wieder stärker steigen würden. Zum zweiten muss die Steuerpolitik agieren. Wir brauchen ohnehin höhere Steuern, weil der Staat unterfinanziert ist. Diese Steuern müssen dort erhoben werden, wo Geld reichlich vorhanden ist. Wir brauchen eine Steuer auf Finanzmarkttransaktionen, eine Vermögenssteuer und sicherlich auch eine Erhöhung der Erbschaftssteuer.

ver.di PUBLIK | Besteht nicht ein Widerspruch zwischen Verteilungsgerechtigkeit und mehr Wachstum?

HORN | Nein. Wir haben lange Phasen in unserer Geschichte gehabt, wo wir stärker gewachsen sind als heute. In diesen Phasen war die Ungerechtigkeit bei weitem geringer, als sie es heute ist. Deutschland war bis zum Jahr 2000 im internationalen Vergleich eine eher egalitäre Gesellschaft, und wir hatten dennoch in der Zeit zuvor im internationalen Vergleich durchaus ansehnliche Wachstumsraten.

ver.di PUBLIK | Was ist ab dem Jahr 2000 passiert?

HORN | In der Steuerpolitik sind die oberen Einkommen stark entlastet worden. Es gibt keine Vermögenssteuer mehr, die Unternehmenssteuern sind gesenkt worden. In der Arbeitsmarktpolitik ist sehr viel Druck auf Niedriglohnbezieher und Langzeitarbeitslose ausgeübt worden.

Buchtipp: Gustav A. Horn: Des Reichtums fette Beute. Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert, Campus Verlag, Frankfurt/Main, 270 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3593393476

ver.di PUBLIK | Sind nicht auch die Gewerkschaften gefordert, höhere Tarifabschlüsse durchzusetzen?

HORN | Ich wäre vorsichtig, den Gewerkschaften einfach zu sagen, sie müssen höhere Löhne herausholen. Die Gewerkschaften tun, was sie können. Gerade in Dienstleistungsbereichen gibt es tariffreie Gebiete, in denen die Gewerkschaften einflusslos sind. Dort, wo Gewerkschaften stark sind, sieht man auch, dass die Lohnabschlüsse deutlich besser sind. Aber das reicht nicht aus, um eine gesamtwirtschaftliche Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Das ist eine politische Frage, die auch politisch geklärt werden muss.

ver.di PUBLIK | Das IMK rechnet in diesem Jahr mit einem Wachstum von 2,5 Prozent. Wie hoch müssen die Tarifabschlüsse sein, damit die Kaufkraft tatsächlich wächst?

HORN | Die Löhne können nicht viel stärker wachsen als die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Das heißt, wir müssten im Trend schon mal 1,5 Prozent haben. Dann kommt die zulässige Inflation dazu. Das wären noch einmal knapp zwei Prozent. Drei bis dreieinhalb Prozent wären sicherlich ein Maßstab, an dem man sich im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt orientieren sollte. Das heißt, in manchen Branchen können die Abschlüsse höher ausfallen, in anderen niedriger, je nach wirtschaftlicher Lage und politischen Rahmenbedingungen. Zu denen zählt beispielsweise die Schuldenbremse.

ver.di PUBLIK | Die Schuldenbremse greift ab 2016 auf Bundesebene, ab 2020 auf Länderebene, entsprechende Sparbemühungen haben begonnen. Ist der Verzicht auf zu hohe neue Schulden nicht eigentlich eine gute Idee?

HORN | Zumindest eine Reduzierung der Schuldenlast ist in der derzeitigen Situation eine gute Idee. Das heißt aber vor allem, dass wir um Steuererhöhungen zur Haushaltskonsolidierung nicht herumkommen. Wenn ich daran denke, dass in Zeiten, in denen die Kassen auch nur ein bisschen voller werden, eine Debatte über Steuersenkungen anfängt, dann weiß ich, wie die größten politischen Fehler und das Schuldenmachen entstehen

Interview: Heike Langenberg

"Unsere sehr schwache Binnenkonjunktur ist schlicht und ergreifend darauf zurückzuführen, dass in vielen Portemonnaies wenig Geld ist"